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Wilde Erdbeeren: Sebastian Kutzli

Patricia Arquette ist eine wilde Erdbeere.

Aber auch: Der Stadtteil Kirchdorf Süd, oder Steilshoop und seine Treppenhäuser in ‚Landgang für Ringo‘ von Lars Becker (NDR 1996). Hamburg mal anders, und endlich mal echte Städte, nicht immer bloß diese Münchner Retorten.

In ‚Alphaville‘ von Jean-Luc Godard (F/I 1965) sagt Anna Karina: “Die Liebe? Was ist das? Deine Stimme, Deine Augen, Deine Hände und Lippen, unser Schweigen, unsere Worte, das Licht, das entgleitet, das Licht, das wiederkehrt, ein einziges Lächeln für uns beide.”

Aus dem Heimatland schleppe ich euch einen ganzen Film an: ‚Höhenfeuer‘ von Fredi M. Murer (CH 1985). Das Knacken im Feuer, die kalte Bergluft, der Geruch der frischen Heuschwaden, selbst die Geister zwischen den Felsen… Ich kenne keinen Film, der so liebevoll und fast dokumentarisch genau mit der Welt, in der er spielt, umgeht.

In dem Film ‚El Viaje‘ (‚Die Reise‘) von Fernando E. Solanas (Argentinien/F/E 1993) hab ich auch noch eine wilde Erdbeere gefunden: Die erste Sequenz um Violettas Fenster. Martín steigt durch dieses Fenster in ihr Zimmer, um dort auf sie zu warten. In ihrem Zimmer knutschen sie heimlich. Durch dieses Fenster verschwinden sie, wenn sie noch mal weg wollen, und durch dieses Fenster verabschiedet sie ihn, wenn er morgens nach Hause geht. Das Haus ist eines von vielen niedrigen Holzhäusern einer kleinen, verschneiten Stadt an einer grauen, verhangenen Küste am südlichsten Zipfel Feuerlands.

Eine wilde Erdbeere ist auch die letzte Szene in ‚Fallen Angels‘ von Wong Kar-Wei (Hongkong 1995): Eben hat die Frau noch ohne jeden Appetit irgend etwas glibbriges gegessen und dabei an den Stummen gedacht, der im Hintergrund blutend an einem der Tische lehnt, da zerspringt das Bild für einen Moment in zuckende Streifen und Lichter: “Als ich das Lokal verließ,” sagt ihre Stimme leise, “hab ich ihn gebeten, mich nach Hause zu bringen. Ich hab schon ewig nicht mehr hinten auf einem Motorrad gesessen. Und schon lange nicht mehr versucht, jemandem so nahe zu sein. Der Weg ist nicht sehr lang. Wir werden bald da sein. Aber in diesem Moment spüre ich eine sehr große Wärme.” Und während die Neonleuchten an der Tunneldecke in einer weichen Bewegung nach hinten wegziehen, kippt die Kamera, und zeigt aus der nachtschwarzen Häuserschlucht hinaus den düsteren Himmel. Abblende.

Die wildeste der wilden Erdbeeren hier ist ‚Funny How Secrets Travel On‘ von David Bowie (‚Lost Highway‘, David Lynch, USA 1997) . Noch nie hatte ich ein so sinnliches Erlebnis im Kino. Ich hatte mich in einer Art lustvoller Starre, die mir nachher fast peinlich war, an meinem Sessel festgekrallt, mit einem Gefühl, das ich bis dahin erst einmal gehabt hatte: als ich mit 240 in eine Nebelbank gefahren war. Es war der Moment, in dem sich die weichen Linien um mich herum in ein stummes Weiß auflösten und mit ihnen jedes Gefühl für Raum und Bewegung. Ich erinnere mich, wie ich durch das Seitenfenster versucht habe, den Boden irgendwo unter mir zu erkennen und wie ich fassungslos und mit eben dieser starren Verzückung auf den Zeiger des Tachos gestarrt habe, der irgendwie bei der 200 hängen geblieben war. Erst als der Nebel plötzlich aufflog, kam auch die Geschwindigkeit zurück. Ich war schweißnaß, aber noch sicher eine halbe Stunde lang high.

Sebastian Kutzli

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