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Patrick Buttmann: Komponierte Emotionen

Überlegungen zur Musik- und Mischdramaturgie

Jeder weiß: Bewegte Bilder entfalten ihre ganze Magie erst mit dem Ton. Wo die Musik Emotionen unterstützt, unterstreichen die Geräusche den Eindruck der Realität. Gleichwohl werden die vielfältigen dramaturgischen Möglichkeiten der Mischung in Deutschland oft vernachlässigt.

Grundprinzip in deutschen Filmen und besonders in deutschen Fernsehfilmen ist die “dokumentarische” Mischung, welche einen objektiven Realismus auf der Tonebene zum Ziel hat. Das bedeutet, daß Geräusche, welche auf der Bildebene zu “sehen” sind, auch auf der Tonebene auftauchen. Folglich bekommt der Kinozuschauer den Status eines objektiven, geradezu omnipotenten Hörers, der alle Geräusche einer Szene gleichzeitig aufnehmen kann. Diesen “objektiven” Hörer gibt es in der menschlichen Wirklichkeit jedoch nicht. Die Verarbeitung der akustischen Signale im Gehirn findet immer subjektiv statt. Subjektiv bedeutet Selektion, d.h. daß bei einem Partygespräch beispielsweise der Umgebungslärm ausgeblendet und die Worte des Gesprächspartners hervorgehoben werden. Überläßt man es bei “objektiver” Abmischung dem Kinozuschauer, diese Selektion vorzunehmen, erzeugt man Distanz. Ein emotionaler Spielfilm möchte jedoch gerade diese Distanz zwischen Leinwand und Zuschauer aufheben, d.h. er möchte den Zuschauer beispielsweise in die Rolle des Hauptdarstellers schlüpfen lassen. Dies kann gelingen, indem die akustische Ebene die Hörperspektive des Hauptdarstellers einnimmt. Der Zuschauer befindet sich in höchster Intimität zum Hauptdarsteller und kann an dessen Gefühlswelt teilhaben. Diese Form der subjektiv dramaturgischen Mischung ist oft in amerikanischen Großproduktionen anzutreffen. Das geht so weit, daß selbst bei quasi dokumentarischen Szenen die Hörperspektive eine Subjektive ist. Eindringliches Beispiel hierfür ist die Landungssequenz in Steven Spielbergs “Saving Private Ryan”, wo dem kalten objektiven Auge der Kamera eine höchst subjektive Hörperspektive gegenübergestellt wird. Hier fliegen die Kugeln ganz nahe am Ohr vorbei und ab und zu (was der Hörperspektive des Darstellers entspricht) wird man davon sogar vorübergehend taub.

Auch David Finchers “Seven” bietet eine subjektiv dramaturgische Mischung. Allerdings nimmt hier die akustische Ebene überraschend selten den Standpunkt eines einzelnen Darstellers ein. Vielmehr ist sie ganz in den Dienst der Darstellung einer unwirklichen, unmenschlichen Welt getreten. Weder die beiden Polizisten Mills (Brat Pitt) und Somerset (Morgan Freeman), noch der Täter John Doe (Kevin Spacey) sollen dem Zuschauer als Personen besonders nahe gebracht werden, Intimität ist nicht erwünscht. Diesem Gesamtkonzept folgend sind Innenaufnahmen beispielsweise bezüglich der Atmo oft wie Außenaufnahmen gemischt. Bei der Untersuchung des ersten Toten durch Detective Somerset hat man den Eindruck, daß mitten durch das Zimmer Autos fahren und der Polizeifunk nicht aus den Streifenwagen draußen, sondern aus dem Raum selbst kommt. Dazu mischt sich fast permanent das Geräusch des Regens. In Somersets Wohnung geht die Tonebene noch einen Schritt weiter: Der Lärm aus den Nachbarwohnungen wird massiv verstärkt und diesen Geräuschen noch ein “Hofhall” dazugemischt. Alle anderen Geräusche sind weit heruntergemischt. Die Absicht liegt auf der Hand: Der Mensch hat keine Chance, dem Moloch Großstadt zu entkommen, Intimität aufzubauen und sich zurückzuziehen.

Geräusche, welche in diesem Film keine dramaturgische Funktionen haben (wie zum Beispiel Schritte, in Deutschland meist über jeden Alltagsrealismus hinausgehend laut abgemischt), werden massiv (bei Schritten bis zur Hörgrenze) heruntergefahren, was konsequent erscheint. Es reicht meist aus, sichtbare Geräusche extrem leise zu plazieren, da der Zuschauer diese aus seinem Alltag genau kennt. Sind sie zu laut, stören sie die Emotionalität eines Films.

Noch einmal zum Regen: Bei den Außenszenen von “Seven” ist der Regen in seiner Geräuschhaftigkeit so gewaltig, daß er eine eindringliche, geradezu erdrückende Präsenz erhält. Das erste Gespräch zwischen Mills und Somerset auf der Straße, bei dem der Regen lauter als der Dialog gemischt wurde, ist hierfür ein Beispiel. Man kann die Sache jedoch auch umgekehrt betrachten: Der Regen drückt dem Film einen akustischen Stempel auf. Er ist die akustische Nullachse. Insofern erhalten Szenen, in denen kein Regen zu hören ist, eine Bedeutung: In der letzten Szene zwischen Mills und seiner später ermordeten Frau (Gwyneth Paltrow) erzeugt das Nichtvorhandensein des Regens eine Atmosphäre von Intimität. Das Wegblenden des Regens kann auch noch andere Funktionen haben: In dem Moment, wo John Doe Mills nach einer langen Verfolgungsjagd die Pistole an die Schläfe setzt, und jederzeit abdrücken kann, wird der Regen leiser, die Mischung geht über in Mills Subjektive. Erst nachdem Doe verschwunden ist und sich die Spannung in Mills Körper löst, erlangt der Regen seine vorherige Dominanz zurück.

Bemerkenswert ist die Gestaltung der Tonebene auch, als Somerset Mills und seine Frau besucht: Auf der Bildebene erscheinen zum ersten Mal warme Farben und ein ästhetisches Ambiente, Mills Frau erscheint als engelsgleiche Gestalt. Durch den Kontrast zu den vorherigen Szenen wird deutlich, daß Mills Frau einen Hauch von Menschlichkeit und Intimität in dieser Welt herzustellen versucht. Daß ihr dies in zunehmendem Maße gelingt, macht auch die Tonebene deutlich: Schon am Anfang ist der sonst so deutlich wahrnehmbare Regen und Verkehr heruntergeblendet, dazu erklingt Jazzmusik. Dialog und Musik sind noch sehr räumlich abgemischt. Im Verlauf der Szene steigert sich die Intimität dadurch, daß die Mischung von Musik und Dialog zunehmend trockener geworden ist, der Raum folglich weniger wahrgenommen wird, also die Distanz der Personen zueinander und zum Zuschauer abnimmt. Diese Intimität wird jäh unterbrochen durch das ohrenbetäubende Dröhnen einer U-Bahn, die Stadt hat plötzlich von der Wohnung Besitz ergriffen und jegliche Intimität zerstört. Zwar ist das U-Bahngeräusch schon fast überzogen laut abgemischt, es macht jedoch auf bedrückende Weise deutlich: Die engelsgleiche Frau hat mit ihrer Reinheit in dieser Stadt keine Chance und wird ihr später (stellvertretend ausgeführt von John Doe) zum Opfer fallen.

Die überzogen laute Abmischung einzelner Geräusche als bewußt eingesetzter dramaturgischer Effekt findet sich an vielen Stellen dieses Filmes. Der gewünschten menschenfeindlichen Atmosphäre entsprechend haben diese Geräusche alle keinen “schönen” Klang. Noch irrealer wird Fincher, wenn Mills und Somerset sich in der Wohnung von John Doe befinden. Wenn die aufgehängten, in der Luft wehenden Fotos zu sehen sind, erklingt auf der Tonebene ein klapperndes Glasschalenspiel, den Fotos wird also eine gläserne Materie gegeben, was zur Schaffung von Suspense beiträgt. Allerdings ist hier schwer zu sagen, ob man dies noch einen eigenständigen Soundeffekt oder schon einen Bestandteil der Suspensemusik nennen soll.

Musik und dramaturgisches Geräusch sollten eine untrennbare Komposition bilden. Musik ist ja nichts anderes als geordneter, zusammengesetzter (komponierter!) Klang. Man sollte immer in Abstimmung zwischen Musik- und Sounddesigner arbeiten. Bei der Filmmusikproduktion zu dem deutschen Liebesfilm “Wer liebt, dem wachsen Flügel” (Regie: Gabriel Barylli) beispielsweise standen Enjott Schneider und ich vor der Aufgabe, zu einer wilden, düsteren Szene in einem Sadomasokeller eine Heavymetalmusik zu schreiben. Bei der Mischung stellte sich dann heraus, daß die Musik alleine schon sämtliche Frequenzspektren abdeckte, so daß zusammen mit den (an dieser Stelle wichtigen) Geräuschen und Soundeffekten ein undurchschaubarer akustischen Brei entstand. Die Konsequenz war, daß die Musik heruntergemischt wurde und insofern kaum noch zu hören ist, was mit einer auf Geräuschen und Sounddesign genau abgestimmten Musik nicht der Fall gewesen wäre. Eine gute Abstimmung zwischen Musik, Geräuschen und Sounddesign läßt sich bei “Seven” beobachten: Howard Shores Musik drängt sich nie in den Vordergrund, sie versucht nie, dem Sounddesign Konkurrenz zu machen und auch das Sounddesign versucht nie, der Musik Konkurrenz zu machen. Die Sound- und Musikebene stellt sich als eine Einheit dar, ohne sich zu doppeln. Zwar repräsentieren beide den Moloch Stadt, das Geräusch jedoch in dessen Äußerlichkeit, die Musik hingegen mehr in dessen psychischer Dimension. Dazwischen liegen die schon besprochenen, nicht eindeutig zuzuordnenden irrealen Soundeffekte. Dieses Zusammenspiel zeigt sich beispielsweise am Anfang des Filmes, wenn zu der grummelnden Suspensemusik erst das Gartentor quietscht, und kurze Zeit später ein ähnlicher Sound, gespielt von einem bestrichenen Vibraphon, in der Musik auftaucht. Die Musik ist hier in zweierlei Hinsicht gut komponiert: Sie verwendet nur sehr tiefe und sehr hohe Töne. Durch die Aussparung der mittleren Frequenzen und dem sehr langsamen rhythmischen Gestus wird den Geräuschen und dem Dialog genug Platz gelassen und kann somit recht präsent gemischt werden. Zusätzlich wird dadurch ein riesiger psychischer Raum aufgestoßen: die Gleichzeitigkeit von extrem hoch und extrem tief repräsentiert eine extrem schizophrene Psyche. Soll die Spannung in der Musik an diesen Stellen stärker werden, so verwendet Howard Shore lediglich simple chromatische Progression, was einfach, aber effektvoll ist. Aus der Stimmung des Filmes “Seven” völlig herausfallend ist die Musik zur Szene Somerset nachts in der Bibliothek, die berühmte “Air” von Johann Sebastian Bach. Ein Sinn dieser Musik wird sofort offensichtlich: Die Bibliothek als von der verdorbenen Außenwelt völlig abgeschlossener Ort geistiger Hochkultur. Sie beginnt zuerst als Sourcemusik, wird aber, wenn langsam deutlich wird, warum Somerset in der Bibliothek verweilt, zur Filmmusik aufgeblendet und erklingt insgesamt ganze 3 Minuten, ohne Unterbrechung durch Dialog oder laute Geräusche. Trotzdem trägt die Musik diese Zeitspanne ohne Problem. Sie verbindet zwei an unterschiedlichen Orten ablaufende Szenen; die Ermittlungen Somersets in der Bibliothek und die Ermittlungen Mills zu Hause. Es wird deutlich, daß diese Szenen gleichzeitig ablaufen. Daneben schafft die Musik dadurch, daß sie langsam, getragen und in sich abgeschlossen ist (sie erzeugt einen langen Bogen, welcher über sehr viele Schnitte hinweg sich trägt und diese zusammenbindet), ein intensives Zeitgefühl beim Zuschauer. Es wird ihm glaubhaft vermittelt, daß Somerset die halbe Nacht in der Bibliothek zugebracht hat. Und neben dem Flair geistiger Hochkultur zeigt sie den Täter John Doe in seiner geistigen Schizophrenie: Er erscheint nicht mehr als dumpfer Mörder sondern als hochintelligenter Psychopath. Zudem erfüllt die Musik auch noch die Funktion eines musikalischen Parfüms: Sowie ein Duft an ein vergangenes Ereignis erinnert, wird hier im Cineasten die Erinnerung an einen anderen Psychopathen der Filmgeschichte geweckt: Hannibal Lecter aus “The silence of the lambs”. Auch dieser mordete auf grausamste Weise, war hochintelligent und hörte zu seinen Morden am liebsten die Goldbergvariationen von Bach. Die Tonebene erscheint in “Seven” als eine in jeder Hinsicht bewußt “komponierte” und aufeinander abgestimmte Mischung von Dialog, Geräuschen, Soundeffekten und Musik. Gerade die Geräusche sind hier in bemerkenswerter Weise auf ihren dramaturgischen Wert hin beurteilt und dementsprechend herausgehoben, leise gehalten oder ganz weggeblendet worden. Durch die bewußte Komposition der Tonebene vermag der Film den Grad an Emotionalität zu erzeugen, der ihm aufgrund des Drehbuchs und der bildlichen Inszenierung potentiell innewohnt.

Oft ist es aber nicht nur die Lautstärke der Geräusche, sondern auch ihre klangliche Güte, welche verantwortlich für ihre Wirkung ist. Ein Tonmeister bemerkte in diesem Zusammenhang, daß die Qualität der Geräusche bei amerikanischen Produktionen weitaus besser als in deutschen Filmen sei. Sie besäßen eine klangliche Güte, die unaufdringlich, aber dennoch sehr präsent sei, was auch daran liege, daß die Aufnahme des O-Tons in den USA ungleich sorgfältiger gemacht werde. Daß der Unterschied nur an der Güte liegt, darf jedoch bezweifelt werden. Es ist nicht nur eine Sache des Budgets, sondern auch eines kritischen auditiven Bewußtseins, welches die Tonebene bewußt “komponiert”, Prioritäten setzt, überflüssiges ausblendet und so über die Güte einer Mischung entscheidet.

Patrick Buttmann

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