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Interview: Jean-Claude Carrière

Revolver: Was haben Sie zuletzt geträumt?

Jean-Claude Carrière: Sonderbarerweise habe ich von Brigitte Bardot geträumt. Zumindest ist das der letzte Traum, an den ich mich erinnere. Sie war jung und frisch, ganz in Weiß gekleidet, und ich habe geträumt, daß sie auf dem Fahrrad sitzt und ich hinter ihr, und ich halte sie fest. An mehr erinnere ich mich nicht. Es war nicht unbedingt ein pornographischer Traum, aber ein ziemlich erotischer.

Hatte der Traum einen Anfang oder ein Ende?

Nein, es war nur ein Bild. Mehr als ein Bild. Es war eine Empfindung, ein Gefühl. Ich konnte sie nicht richtig sehen, weil ich hinter ihr war, aber ich spüre immer noch die Wärme ihres Körpers und habe einen bestimmten Geruch in der Nase. Das ist sehr selten in einem Traum, daß man etwas riecht oder schmeckt.

Inwieweit ist die Logik des Traumes die Logik der Filme, die sie mit Buñuel gemacht haben?

Buñuel würde Ihnen sagen, daß es völlig unmöglich ist, einen Traum in einem Film zu zeigen. Außer in Form eines Witzes. In Wirklichkeit haben Träume meistens keinerlei Bedeutung für uns. Darin besteht ihre Schönheit. Ein Traum besitzt keinerlei Realität, er hat nichts mit unserem Beruf, unseren Alltagssorgen zu tun. Er kommt aus dem Nichts. In einem Film hat ein Traum immer eine Erklärungsfunktion. Sie wissen schon, eine Figur träumt etwas, das vollkommen mit der Geschichte verknüpft und auf sie bezogen ist. Und das passiert im Leben nie. Und deshalb ist ein Traum im Film immer ein falscher Traum. Es ist etwas, das aussieht wie ein Traum, aber keiner ist. Tatsächlich ist es Teil der Geschichte und nicht der Traum der Figur, sondern der Traum des Drehbuchautors oder des Regisseurs.

In dem Film, der heute gezeigt wird  – “Le Fantome de la Liberté” – hat man manchmal das Gefühl, daß die Träume zwar eine Bedeutung für den Film haben, aber auch aus dem Nichts kommen …

In dem Film gibt es keine Träume. Träume gibt es in “Le charme discret de la Bourgeoisie”, da gibt es sogar Leute, die träumen, daß sie träumen. In “Le fantome de la liberté” könnte der ganze Film ein Traum sein, denn es gibt keine logische Verbindung zwischen den Szenen, zwischen den Figuren und den Situationen. Es gibt sogar einige Szenen in dem Film, die sich überhaupt nicht rechtfertigen lassen. Szenen, in denen überhaupt nichts passiert. Ein Mann fährt mit einem Auto, das Auto wird von einem Polizisten angehalten und sorgfältig untersucht, und es gibt nichts Verdächtiges an diesem Auto. Der Mann ist ein normaler Mann, er ist kein Mafioso oder sowas. Es gibt überhaupt keine Spannung. Der Polizist geht um das Auto herum, und das dauert zwei oder drei Minuten – zwei oder drei Minuten nichts! Und am Ende sagt der Polizist: “Okay, Sie können weiterfahren.” Das ist alles. Das ist also eine völlig überflüssige Szene … wie man gegen die Regeln des Drehbuchschreibens verstößt! (Lachen) Ich meine, der ganze Film ist ein Essay. “Le fantome de la liberté”, die Freiheit, um die es geht, ist natürlich die Freiheit des Autors. Er glaubt, er sei frei, aber er ist es nicht. Unsere Freiheit ist ein Phantom. Auch diese Szene ist natürlich eindeutig die Folge einer Entscheidung der Drehbuchautoren.

Ist sie denn frei von Psychologie?

Freiheit hat viele Bedeutungen. Die Surrealisten versuchten, sich vor allem poetisch auf eine bestimmte Art auszudrücken, ohne die Vernunft oder den Verstand einzuschalten. Zum Beispiel bei dem, was man “automatisches Schreiben” nennt. Wo man direkt von einer bestimmten Form von Empfindung ans Schreiben geht, ohne daß das Gehirn dabei eingreift oder urteilt. Was beim Film natürlich ganz unmöglich ist, denn beim Film kann man eine Idee nicht direkt umsetzen. Man muß einen sehr langen und komplexen technischen Prozeß durchlaufen. Darum wäre sowieso jeder Film das Phantom der Freiheit.

Wie kann man etwas über eine Person sagen, ohne etwas über ihre Psychologie zu erzählen?

Nur indem ich beobachte, was die Person tut, was sie sagt, und die Schauspieler bitte, das auch zu tun. Ohne zu versuchen, es zu erklären. Das ist bei allen Buñuel-Filmen die Regel. Sobald man versucht, es psychologisch zu erklären, wird es Willkür. Ein Mann tötet im wirklichen Leben seine Frau. Man wird nie wissen, warum. Wenn wir einen Film drehen, ist das einzige, was wir wissen, daß der Mann die Frau tötet. Aber was wir wissen und zeigen können, ist, wie er sie tötet. Was in seinem Gesicht zu sehen ist oder in ihrem. Die ganze Beziehung, die sich in der Kleidung, der Wohnung usw. ausdrückt, in der Art, wie sie zusammen leben. Und vergessen wir nicht, daß Buñuel früher als Student Insektenforscher war, daß er von früh bis spät Insekten beobachtet hat. Ich habe sehr oft das Gefühl, daß er das mit seinen Figuren macht: Er beobachtet sie sehr genau, aber schert sich nicht um eine “psychologische Wahrheit”, weil er genau weiß, daß sie nicht existiert. Die psychologische Wahrheit einer Figur ist eine Entscheidung des Autors, nie die der Figur, denn die Figur hat keine reale Existenz. Wenn man anfängt, ein Drehbuch zu schreiben, ist es am einfachsten, das zu tun, was alle Studenten tun: Man beschreibt die Figuren und etabliert so eine Art psychologisches Porträt, und danach hat man, wie im bürgerlichen Theater des neunzehnten Jahrhunderts, einen stabilen Ansatz, denn in welcher Situation sie sich auch befinden werden, man weiß, wie sie reagieren werden. Aber das Porträt ist vollkommen willkürlich, und das verleiht dem Theater und dem Kino sehr oft etwas Künstliches. Für mich und Buñuel und viele andere ist Kino, wenn ein Mann auf einem Pferd in eine Stadt im Westen kommt. Er kommt aus dem Nichts, und wir wissen nichts von ihm. Aber sobald er am Saloon ankommt, über die Art, wie er vom Pferd steigt, wie er sich umsieht, wie er die Zügel des Pferdes vor dem Saloon anbindet und die Treppe hinaufsteigt, wissen wir schon eine Menge über ihn. Und bis zu diesem letzten Moment kann der Regisseur Veränderungen vornehmen und sagen: “Schau nicht so besorgt, schau nicht so alarmiert, schau gleichgültiger…” Und das ändert alles. Wenn Du vorher ein Porträt dieses Mannes erstellt hast, ist dieses Porträt Dein Gefängnis, dann kannst Du nichts ändern. Es schließt jede Möglichkeit der Regie aus, der echten kinematographischen Regie.

Passiert es Ihnen nicht, daß Ihre Figuren während des Schreibens zu leben beginnen …

Natürlich gibt es Grenzen. Eine Figur kann nicht alles machen. Was sie tut, muß mit dem Drehbuch übereinstimmen, es muß sowohl interessant sein, überraschend, wenn möglich, als auch gleichzeitig fast unvermeidlich. “In Le charme discret de la Bourgeoisie” stellen wir plötzlich fest, daß diese penetrant friedlichen französischen Bürger Drogenhändler sind. Das kommt überraschend, aber man akzeptiert es leicht, weil es im wirklichen Leben auch so ist. Wir stecken alle voller Überraschungen.

Natürlich ist es eine Frage, wie Buñuel sagen würde: “Man kann alles machen, außer alles.” Verstehen Sie? Die Freiheit ist enorm, aber sie ist ein Phantom. Denn man ist immer durch die Akzeptanz des Publikum eingeschränkt. Da ist die Grenze. In dem Moment, in dem das Publikum die Achseln zuckt und sagt: “Okay, wenn das so ist…, laß uns gehen! Sowas Absurdes und Unrealistisches!” In diesem Fall haben wir verloren. Und darum haben Buñuel und ich uns die ganzen 19 Jahre, die wir zusammengearbeitet haben, immer vorgestellt, daß wir in unserem Hotelzimmer ein französisches Mittelklassepaar dabei hätten, Henri und Georgette. Und Henri und Georgette waren nicht dumm, sie verfügten über eine gewisse Bildung und interessierten sich für Buñuels Filme. Unser Ziel war, einen neuen Film ohne Beschränkungen zu machen, ohne daß Henri und Georgette das Kino verließen. Manchmal fragten wir sie: “Wie war es?” Ich erinnere mich, daß Buñuel, wenn ich etwas vorschlug, was er für zuviel hielt, aufstand und sagte: “Was? Georgette, das ist zuviel. Laß uns gehen. Das ist kein Film für uns.” Und Henri und Georgette verließen das Zimmer. Henri und Georgette sollten überrascht, manchmal schockiert, aber nicht aus dem Kino gejagt werden.

Auch nicht gelangweilt?

Auf keinen Fall.

Sind Henri und Georgette also so eine Art Verwandte von Laurel und Hardy, von denen Sie einmal gesagt haben, daß eine Szene, zu der den beiden nichts einfällt, zwangsläufig schlecht sein muß?

Nein, Laurel und Hardy waren beim Schreiben hilfreich. Laurel und Hardy sind das perfekte Beispiel für ein nicht-psychologisches Kino. Sie haben keine Psyche. Sie sind nur zwei Beispiele phantastischer Menschlichkeit. Versucht man jedoch, sie zu analysieren, kommt man zu keinem Ergebnis. Denn sie reagieren einfach nur auf eine Situation, das ist alles. Aber ihre Beziehung als Paar ist vollkommen. Wenn man sich klarmacht, daß sie in vielen Filmen zusammenleben, im selben Bett schlafen, ohne den leisesten Anschein von Homosexualität! Wie ist das möglich? Solch eine Unschuld! Die Balance ist absolut perfekt. Sie sind also sehr hilfreich bei Szenen mit zwei Figuren … Es ist interessant, sich zu fragen, wie hätten “sie” in dieser Szene gehandelt? Wie würden “sie” einander anschauen? Ich kann Ihnen kein Beispiel geben, aber glauben Sie mir, es ist eine sehr bereichernde Erfahrung! Natürlich ist es nur eine Erfahrung. Aber es bedeutet, daß wir in jedem von uns einen Laurel und Hardy versteckt haben. (Lachen)

Sie wenden sich gegen die Willkür bei der Figurenbeschreibung und implizieren damit die Notwendigkeit einer anderen Logik beim Drehbuchschreiben. Wie könnte die aussehen?

Es gibt mehrere andere Logiken. Bei Laurel und Hardy ist es zum Beispiel die der Komik, des Gags. Und dann bei einigen Filmen von Eric Rohmer, die sehr psychologisch wirken: Es sieht aus wie ein psychologischer Dialog. Eine Figur versucht in eine andere hineinzuschauen, die verteidigt sich, lügt, versucht ihrerseits in die erste hineinzuschauen und so weiter. Diese Art eines sogenannten psychologischen Spiels kann interessant sein als ein Duell mit Worten, und es benutzt sogar die Maske der Psychologie. Aber das ist nur Oberfläche. Durch die Art, in der man etwas tut, wie man andere ansieht, verrät man viel. In Rohmers Filmen ist dies oft das Gegenteil von dem, was gesagt und woran gedacht wurde. Es gäbe noch viele andere Beispiele… Im Kino ersetzt der Blick die Sprache. Die Aufmerksamkeit des Betrachters verläßt den Mund und die Worte, um die Augen auf das zu fixieren, was absolut zur Sprache des Films gehört. Wenn ich sage, keine Psychologie, heißt das nicht, daß ein Film keine Tiefe hat, im Gegenteil. Er geht sehr tief, aber auf einem anderen Weg. Wie Tschechow es einmal in einem schönen Satz gesagt hat – sinngemäß: “Wenn man einer Figur Leben geben will, die kein Leben hat, außer dem, das man ihr gibt, dann beschreibe sie nicht, sondern laß sie etwas tun. Dadurch legt man frei, was eine Beschreibung nur verbergen würde.” Das ist absolut richtig.

Ist das nicht einer der Hauptgrundsätze des amerikanischen Mainstream-Kinos?

Ja, natürlich. Und ich würde sagen, vor allem des amerikanischen Films vor 1950, denn das geschwätzigste Kino war das amerikanische Kino der fünfziger Jahre. Dort wurde ununterbrochen von Anfang bis Ende geredet. Nur um nichts zu sagen. Die Worte erklärten nicht nur nichts, sondern sie verbargen alles… Ich meine, alle Ausdrucksmöglichkeiten, die das Kino besitzt, werden von den Worten unmöglich gemacht, von der Eitelkeit der Worte. Eines der schönsten Komplimente, das mir ein Regisseur machte, ohne daß es so gemeint war, bezog sich auf eine Szene, die ich geschrieben hatte mit sehr wenig Dialog. Der Regisseur sagte, daß er bei seinem letzten Film, den ein berühmter französischer Dialogautor geschrieben hatte, immer gezwungen gewesen sei, die Kamera auf den jeweils Sprechenden zu richten. Er sei ein totaler Gefangener der Worte gewesen. Aber dadurch, daß ich eine komplette Szene mit nur vier oder fünf Sätzen geschrieben hätte, sei er gezwungen gewesen, seine Imagination zu gebrauchen. Mit anderen Worten, erst das hätte ihn gezwungen, wirklich Regisseur zu sein, sich eine Inszenierung für die Szene auszudenken.

Was den Zwang des Regisseurs angeht, sich an die Dialoge zu halten, ist das nicht auch ein bißchen so bei den Filmen von Carné?

Ja, ich glaube schon, und ich habe mit Marcel Carné auch darüber gesprochen. Es gab einen tiefes Verständnis zwischen Jacques Prévert und Carné. Ich habe Marcel Carné einmal beim Festival in Cannes am Strand getroffen, und wir haben einen ganzen Tag über “Les enfants du paradis” gesprochen. Darüber sind wir zu Freunden geworden. Es war sehr interessant, ihm zuzuhören. Wie er mit einem sehr guten Text und Dialogen umgehen mußte, ohne seine Qualitäten als Regisseur zu verlieren.

Er sagte mir, daß bei Préverts Dialogen jede Figur sich gemäß ihrer sozialen Stellung ausdrückt, daß der Aristokrat wie ein Aristokrat spricht, die Frau aus dem Volk spricht wie ihre Mutter, wenn sie aber den Aristokraten geheiratet hat, verändert sich ihre Sprache usw. Aber alle sprechen wie Prévert. Alle! Egal aus welcher Schicht. Und wenn ein Regisseur sich das klarmacht, hat er bereits einen großen Schritt in die richtige Richtung getan. Verstehen Sie, was ich meine? Er weiß, was er tut. Abgesehen davon haben sie sowieso eng zusammengearbeitet. Es war nicht so, daß Carné einfach nur ein Drehbuch von Prévert bekam. Sie haben von Anfang an zusammengearbeitet. Das ist die Regel und das Geheimnis.

Ich glaube, das Kino ist einer Galerie in gewisser Weise sehr ähnlich, denn es definiert einen Ort, an dem man die Dinge betrachtet, und man sieht sie ganz anders als im normalen Leben. Nur so wird ein Ready Made denkbar, etwas, was nicht erklärt wird, kein Symbol, sondern einfach ein normales Objekt…

Schon, aber man macht keine Filme, um Objekte zu zeigen. Ein Film ist vor allem ein dramatisches Werk. Das Kino ist nicht die Kunst des Bildes, wenn es eine Kunst des Bildes gibt, dann ist das die Malerei oder vielleicht die Photographie.

Das Kino gebraucht Schauspieler, Situationen, Szenen, die natürlich getrennt sind von allem anderen – nichts mit Realität zu tun haben, wie Ready Mades –, aber es erzählt Geschichten, zeigt lebendige Menschen, das ist etwas völlig anderes als eine Galerie.

Die Tatsache, daß der Film, jeder Film, vom Rest der Welt getrennt ist, ist – wie soll ich sagen – eine konstante Qualität des Kinos. Es ist gleichzeitig gut und schlecht, denn es begründet den Bildausschnitt, den Rahmen, der auf eine Wand projiziert wird und der Rest drumherum ist dunkel. In einem Theater gibt es keinen Rahmen. Ihre Vision ist global und Sie sind ein Teil davon, Sie sind in den Theatersaal integriert. Und eines der Probleme, das das Kino heute und morgen hat, ist diese ständige, hinderliche Trennung zwischen Ihnen und der Leinwand, die physische Trennung, nicht nur zwischen Ihnen und der Leinwand, sondern auch zwischen der Leinwand und dem Rest der Welt.

Wäre es für Sie interessant, interaktives Kino zu machen?

Es würde nichts ändern. Film wird im Kino auf eine Leinwand projiziert oder im Fernsehen gezeigt, es ist eine Trennung da. Nein, das Problem ist: Jeder bewußte Filmemacher ist zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Karriere gezwungen, der Realität ins Auge zu blicken. Sie ist der Freund oder der Feind. Realität, was ist das? Und wie soll ich mit der Realität umgehen durch diese Linse, die bezeichnenderweise Objektiv heißt, also das Gegenteil von subjektiv. Ich bin immer schon durch die Kamera von der Realität getrennt, die ich aufnehmen soll. Das ist für jeden guten Filmemacher das Problem Nummer eins, welche Lösung er auch immer wählt. Und ich weiß nicht, wie man diese Grenze durchbricht, oder, wie Godard es einmal ausdrückte, wie man einen Film macht, der kein Kino ist? (Lachen)

Im Moment ist es unmöglich. Es gibt viele Versuche: Größere Leinwände, Interaktivität. Aber bis jetzt sehen wir immer noch auf ein erleuchtetes Rechteck auf einer Wand wie vor hundert Jahren.

Mir scheint, mit all diesen Verfahren versucht man immer, die Dinge sichtbarer zu machen, und man sieht doch nicht mehr. Könnte man nicht diesen Rahmen brechen, indem man sagt, man müßte das Kino unsichtbarer machen, mehr Unsichtbares ins Kino einführen, so wie man in die Filmemulsion Fehler einbaut, um die sich dann die Entwicklungskeime bilden?

Jaja, sicher. Das einzige Buch über Kino, das ich in meinem Leben geschrieben habe, heißt: “Der Film, den man nicht sieht”, “Le film, qu’on ne voit pas”. Wir suchen alle nach dem unsichtbaren Film, aber wir wissen natürlich sehr gut, daß das ein Paradoxon ist. Ein Film, den niemand sieht, ist kein Film, bedauerlicherweise. Buñuel, Lubitsch und viele andere haben versucht, beim Publikum zu erreichen, daß es vergißt, daß da ein Rahmen existiert, daß es ein Film ist. Dabei verwendeten sie viele Tricks. Buñuel bewegt zum Beispiel immer ganz langsam die Kamera – oder fast immer –, wie eine Schlange hypnotisiert er uns. Niemand merkt es, aber wenn man seine Filme und besonders die letzten, z. B. “Le fantôme de la liberté”, genau ansieht, merkt man, daß sich die Kamera völlig grundlos immer leicht bewegt. Als ob der Kameramann ziemlich ungeschickt wäre (lacht).

Sie haben von Godard gesprochen. Ich habe gelesen, daß Godard sich bei der Vorbereitung eines Films immer dagegen wehrte, die Sachen schriftlich zu fixieren…

Nein, nein, nein…

… gerade, weil das vieles schon so sehr festlegt. Für Ihre Zusammenarbeit mit ihm bei “Sauve qui peut (la vie)” soll er daher eine Art Drehbuch-Video gedreht haben. Wie sah ihre Zusammenarbeit mit Anne-Marie Miéville und Godard aus, wenn es das Ziel war, die Dinge gerade nicht allzu sehr zu fixieren?

Man muß sich ohnehin spätestens dann festlegen, wenn man zu drehen beginnt. Oder allerspätestens beim Schneiden. Drehbuchschreiben ist immer nur ein Vorschlag, da ist noch nichts endgültig. Die letzte Instanz ist immer die Inszenierung. Manche Regisseure wollen ein sehr ausgefeiltes Drehbuch mit allen Einzelheiten, um nichts zu vergessen, aber sie wissen auch sehr genau, daß das Drehbuch nicht der Film ist. Und andere, wie Ferreri oder Godard ziehen es vor, im Vorfeld ausgiebig über alles zu sprechen, eine Menge Gespräche zu führen und dann einige Szenen sehr genau zu schreiben. Sie erwarten, daß beim Drehen etwas passiert. Manchmal passiert auch nichts. Das setzt voraus, daß man es sich finanziell leisten kann, zu warten und tagelang nicht zu drehen. Sie arbeiten mit einem sehr kleinen Team – so haben wir das bei “Sauve qui peut (la vie)” und “Passion” gemacht. Aber für den Drehbuchautor ändert es nichts. Das Ziel des Drehbuchautors ist nicht, daß er schreibt, sondern daß es zu einem Film führt. Auf welchem Weg auch immer. Ein Drehbuch wird nicht verlegt oder veröffentlicht. Bei Drehschluß liegt es im Müll. Als Godard also zu mir kam, um über “Sauve qui peut (la vie)” zu reden, sagte er: “Ich habe eine Idee für einen Film”. Ich sagte: “Was für eine? Erzähl mal.” Ich kannte ihn natürlich schon lange. Wir aßen zusammen zu Mittag bei mir, und er sagte: “Ein Mann verläßt Paris, eine schreckliche Stadt, er geht in die Schweiz oder anderswohin, trifft eine Frau oder zwei und bleibt dort oder kommt zurück.” (Lachen) Das war die Idee. Es sieht nach nichts aus, aber wenn man genau hinsieht, ist es eine ganze Menge. Besonders wenn man Godard kennt und die Schweiz und um seinen Wunsch weiß, zu seinen Wurzeln zurückzukehren und so weiter. Also fingen wir an zu reden. Wir redeten sehr viel, und sein damaliger Assistent Romain Goupil filmte uns beim Reden, stundenlang, kilometerlange Gespräche zwischen Godard und mir. Über alles mögliche. Und nach einer gewissen Zeit drehte Godard selbst einen 20-minütigen, ich würde nicht sagen Film, aber Videobilder von einer Frau, die in der Schweiz mit dem Rad übers Land fährt; ein Bild von Jacques Dutronc, denn er hatte vor, einen Film mit Dutronc zu drehen; ein anderes Bild mit einem Gemälde von Bonnnard, das eine nackte Frau in einem Sessel zeigt, die durchs Fenster auf eine Straße schaut und dergleichen mehr. Dann fuhr ich zu ihm nach Rolle, und er führte mir das Video vor, vielleicht 10, 15 Mal. Da saßen wir dann, und er hält bei einem Bild an und sagt: “Ist da eine Szene?” Wenn man sagt: “Nein”, dann gibt es keinen Film (lacht), aber wenn man sagt “Ja”, fragt man sich: “Welche Szene?”. Wissen Sie, diese 20 Minuten Film waren nur ein Ausgangspunkt für die Phantasie. So fingen wir an, und wie immer wurde dabei einiges beibehalten, anderes verworfen, manches ausgearbeitet, einige Dialogszenen, wie die mit den beiden Schwestern, wurden sorgfältig geschrieben, andere nicht. Die Szenen, die ausführlich geschrieben wurden, gibt er den Schauspielern erst im allerletzten Moment. Er versucht – das habe ich von Peter Brook gelernt – die Schauspieler selbst zu den Dialogen, in die Situation, kommen zu lassen. Nicht daß man einen Schauspieler improvisieren läßt, der noch völlig “unschuldig” ist und mit der Situation nicht vertraut, darum geht es nicht. Sondern man redet mit ihm, versetzt ihn in die Situation, bis der Schauspieler im Idealfall anfängt, den richtigen Text zu sprechen. Das passiert natürlich nie, aber wenn man den Schauspielern am Ende den geschriebenen Text gibt, sind sie gut vorbereitet und können ihn sprechen. Peter Brook macht das auch immer, er arbeitet drumherum, nicht direkt an der geschriebenen Szene, sondern drumherum. Er versucht zu sehen, was vorher passierte, woher die Figuren kommen, was sie woanders noch alles tun könnten usw. Und am Schluß, wenn alles ausprobiert und sehr oft verworfen wurde, ist als einziges das übrig, was geschrieben worden ist. Manchmal klappt das sehr gut, manchmal hat man auch nicht die Zeit, so zu arbeiten. Meistens hat man keine Zeit, und darum muß ein Drehbuch geschrieben werden, und die Schauspieler müssen es sich selbst erarbeiten…

Sie haben mit Andrzej Wajda gearbeitet. Ich habe das Gefühl, daß es in seinen Filmen ein sehr starkes Referenzsystem gibt, vor allem in den früheren Filmen. Wie wichtig ist es Ihnen, innerhalb eines Drehbuchs ein System sozialer und filmischer Referenzen zu haben…

Ich versuche nicht so viel darüber nachzudenken. Ich weiß natürlich, daß überall zitiert wird, nicht nur im Kino. Aber wenn man sich zu sehr auf solche Verweise konzentriert, läuft man Gefahr, das Wichtigste aus den Augen zu verlieren, und das ist DIESER Film. Das Problem bei einem Film ist genau dasselbe wie bei einem Buch. Seit ungefähr 150 Jahren, seit Baudelaire und Flaubert, hat jede Kunstform ihre Unschuld verloren. Heute ist es unmöglich, ein Buch zu schreiben, ohne sich bewußt zu sein, daß man ein Buch schreibt und ohne dies auch zu zeigen. Der Prozeß ist so wichtig wie das Buch. Im Film ist das Problem ähnlich. Man muß den Film betrachten, das Ergebnis, und die Art und Weise, wie man ihn macht, den Stil sozusagen, das Schreiben des Films, die Regie. Man kann nicht direkt zum Ergebnis kommen, ohne sich viele Fragen zu stellen. Und viele dieser Fragen beziehen sich notwendigerweise auf andere Filme. Damit der Film nicht wie dieser andere wird. Der richtige Weg, meine ich, ist, zu versuchen, eine Balance zwischen dem Film und dem Prozeß seiner Herstellung zu finden. Es gibt keinen Film, wenn man unter all den Bezügen begraben wird. Dann ist es nur ein Haufen Zitate. Wenn man einfach einen Film macht, ohne sich darum zu kümmern, wie man ihn macht, dann hat man einen zeitgenössischen amerikanischen Film, das sind Drehbuchfilme, verstehen Sie? Den Regisseur kann man während des Drehens austauschen, das merkt niemand. Diese Filme werden auf exakt dieselbe Art gemacht, von denselben Storyboard-Designern. Sie sind alle gleich. Der Regisseur ist nur ein Techniker unter vielen, das ist alles.

Ist das Bezugssystem nicht auch eine Methode, den Schauspielern eine Basis zu geben?

Manchmal natürlich. Es hilft sehr viel. Egal, ob man die Bezüge nun akzeptiert oder verwirft und etwas ganz anderes machen will. Als wir mit Wajda “Danton” gemacht haben, war das für mich hochinteressant, einen Film über die französische Revolution mit ihm und nicht mit einem französischen Regisseur zu machen. Mit einem Franzosen hätte ich dieselben Bezugspunkte gehabt, dieselben Bilder und Erinnerungen. Wir hätten dieselben Bücher gelesen und in der Schule dasselbe gelernt. Mit Wajda war alles anders. Ich war gezwungen, alles in Frage zu stellen, was ich glaubte und wußte. Es gibt da einen schönen Ausdruck bei den Anthropologen. Auf Französisch heißt das “Le regard étranger”, der fremde Blick, der aus der Ferne, der Blick des Ausländers, der manchmal viel durchdringender ist, als der Blick aus der Nähe.

Wo Sie “Le regard etranger” zitieren, das erinnert mich an…

Das ist der Titel eines Buches von Claude Levi-Strauss.

Ja ich weiß. (Lachen) Es ließ mich an etwas anderes denken, eine Frage, die ich mir immer in bezug auf Historienfilme stelle, die man im Präsens erzählen muß, weil das Kino nur Gegenwart aufzeichnen kann, obwohl das, wovon man erzählt, in großer Ferne ist. Eigentlich müßte man diesen Gegensatz spüren. Deswegen bewundere ich Tarkowskis “Andrej Rubljow” so sehr, weil ich da den Eindruck habe, in der Vergangenheit präsent zu sein, und gleichzeitig bleibt das alles so unglaublich fremd. Und ich frage mich immer, wie man das hinbekommt, diese Fremdheit und diese Gegenwart zugleich?

Um diese Frage zu beantworten, bräuchte ich die ganze Nacht. Einerseits ist Kino der einzige Weg, um die Vergangenheit neu zu erschaffen. Aber dazu braucht es einen langen und schwierigen Prozeß, denn früher gab es kein Kino. Zur Zeit von Rubljow gab es keine Kamera. Wenn man also eine Kamera in Roubljows Welt stellen will, muß man sehr vorsichtig sein. Wenn Sie den Film noch mal ansehen, werden Sie bemerken, daß sich die Kamera immer auf Augenhöhe befindet, um nicht zu stören. Sie bewegt sich immer mit den Charakteren. Es gibt keine willkürliche Bewegung der Kamera, man bemerkt sie nicht. Wenn Sie bemerken, daß es im 16. Jahrhundert eine Kamera gibt, stimmt etwas nicht. Außer Sie wollen dieses Unbehagen zum Thema machen, wie zum Beispiel bei den Monty Pythons, damit spielen, daß es zu Christi Zeiten einen Kameramann gab. Alles ist möglich, aber wenn Sie der Vergangenheit so nahe wie möglich kommen wollen, seien Sie sehr vorsichtig. Es gibt viele Tricks, die Kamera zu verstecken. Ich erinnere mich, wie wir bei “Le retour de Martin Guerre” mit Daniel Vigne hart gearbeitet haben, um die Kamera in den Feldern und den Häuser vom Anfang des 16. Jahrhunderts zu plazieren, ohne daß jemand es bemerkte, nicht mal das Team.

Sie haben die Drehbücher für viele Literaturverfilmungen geschrieben. Könnte es so etwas wie einen “literarischen Film” geben? “La Maman et la Putain” von Jean Eustache scheint mir in diese Richtung zu gehen, mit diesen sehr geschriebenen, sehr literarischen Dialogen.

Nein. Ein Film ist ein Film. Sobald Sie ein Theaterstück filmen, ist es ein Film. Was wollen Sie machen? Literatur ist etwas Geschriebenes. Aber “La Maman et la Putain” ist ein Film. Es ist ein Film der etwas anders geschrieben ist als andere, aber er ist nicht besonders literarisch.

Ich dachte an die Art, wie da Sprache inszeniert wird…

Aber Worte gehören genauso zum Kino wie zur Literatur. Nur werden die Worte hier gesprochen, nicht geschrieben. Film ist gänzlich autonom. Was auch immer er nutzt, einschließlich der Wörter, einschließlich langer Sätze und Reden, es ist eine Filmsprache. Und wenn Sie ein Buch adaptieren, geht es nicht darum, dem Buch treu zu bleiben, sondern einen Film zu machen. Und einen Film machen, heißt filmische Sprache verwenden – und nur die. Alles, was der Roman dem Film voraus hat, wird kompensiert durch das Flüstern, die Blicke, die ich in einem Film finde und in einem Buch nicht. Es ist schwer, einem Filmemacher zu erklären, daß ein Buch adaptieren nicht heißt, ein Buch zu einem Film zu machen, sondern einen Film zu machen mit dem Material, welches das Buch uns bietet, nicht aber mit der Sprache.

Sehr oft erinnere ich mich an Kunderas Buch “Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins”. Darin gibt es Dialoge, die natürlich wirken, aber als wir versuchten, sie im Film zu verwenden, funktionierte es überhaupt nicht. Und es war sehr schwierig, einen Dialog neu zu schreiben, der wie ein natürlicher Dialog wirkte. In “Die Blechtrommel” war es einfacher. Da gab es keinen Dialog. Man mußte den Dialog aus dem Kontext heraus schreiben, aus dem Material des Buches. Das ist in gewisser Weise leichter. Jedenfalls hat man nichts, gegen das man kämpfen muß.

Ich habe den Eindruck, daß für viele junge Filmemacher heute der Raum zwischen den Konflikten wichtiger ist, als die Konflikte selbst, weil die verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft so ausgewogen sind, daß die großen Konflikte, die die Gesellschaft in der Vergangenheit aufteilten, nicht mehr im Bewußtsein sind. Meine Frage ist also: Was wäre für Sie ein politischer Film, was könnte heute ein politischer Film sein?

Sie reden nur über Deutschland oder jedenfalls Europa, denn im Rest der Welt sind die Konflikte nicht verschwunden. Und wir haben heute mehr denn je die Chance, Filme auf der ganzen Welt zu machen. Es ist heute einfacher, über die Grenzen zu gehen und sich anderswo umzusehen. Darüber hinaus ist alles politisch. Zum Beispiel sind manche Fassbinder-Filme hochpolitisch, obwohl sie nur in einer Wohnung mit zwei Personen spielen, zwei, die sich streiten und Schwierigkeiten haben, zusammenzuleben, und das sagt viel über menschliche Frustrationen, über die Zustände und die Probleme. Seien Sie nicht zu theoretisch, handeln Sie! Denken Sie nicht so viel darüber nach, was Sie sagen wollen, sagen Sie es! Verstehen Sie, was ich meine? Erinnern Sie sich an den Satz von Tschechow!

Braucht man für eine Bewegung im Kino nicht einen theoretischen Hintergrund?

Die Theorie kommt immer nachher. Manchmal hilft sie, aber nicht am Anfang. Wenn Sie versuchen, die Theorie zu illustrieren, werden sie scheitern. Nein, das wirkliche Problem des europäischen Kinos ist, europäisch zu bleiben, bzw. wieder zum europäischen zurückzufinden, nicht zum amerikanischen. Nicht mit dem amerikanischen Kino zu konkurrieren, es sein zu lassen, was es ist. Es wird ohnehin früher oder später zusammenbrechen. Aber es versucht, die Welt zu erobern, ein bestimmtes filmemacherisches Niveau durchzusetzen, welches bewußt jede andere Form des Kinos vernichtet. Alle anderen Filme, welche auch immer, Kiarostami, französische, afrikanische, Souleyman Cissé … Sie wollen eine Art Monopol im Filmemachen, außer bei Cartoons, von denen würden sie einige den Koreanern und Japanern überlassen. Aber wir müssen dagegen kämpfen. Der einzige Weg zu kämpfen, ist, die Regierung zu überzeugen, so wie wir es in Frankreich getan haben, daß Kino nicht ein Produkt ist, sondern eine Ausdrucksform, die verteidigt werden muß als ein Teil der Ausdrucksmöglichkeit des Volkes.

Aber diese Verteidigung hängt immer mit den Zuschauern zusammen.

Die Zuschauer folgen. Immer. Machen Sie sich über die keine Sorgen. Sie werden da sein. Die Zuschauer sind wir. Trennen Sie nicht die Filmemacher von den Zuschauern, sie sind ein Block, und sie haben dasselbe Bedürfnis, andere Filme zu sehen, die wir machen müssen. Ganz sicher.

Das ist ein gutes Schlußwort. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führten Jens Börner und Benjamin Heisenberg am 17.12.1998 in München. Bearbeitung: Jens Börner. Übersetzung: Eva Pampuch.

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