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Jacques Doillon: Weg-Stücke

Musik

Wenn ich schreibe, dann sehe ich nichts vor mir. Ich will auch nichts vor mir sehen, weil ich weiss, wenn ich anfange, etwas zu sehen, dann wird sich das konkretisieren, dann wird das teurer, weil man dann etwas sehr Präzises suchen muss. Ich schreibe nur Dialoge. Ich versuche, die Musik dieser Dialoge zu hören und herauszufinden, ob man diese Musik schreiben kann. Aber ich vermeide, beim Schreiben schon Regisseur zu sein. Ich schreibe nur Worte, und dann kann ich diese Worte später den Schauspielern geben, damit sie versuchen, sie sich anzueignen. Und da höre ich im allgemeinen überhaupt nicht mehr, was ich geschrieben habe. Einerseits weil es Schauspieler sind, es gibt also eine Interpretation dieser Worte. Andererseits, weil ich sie nicht mehr hören will. Ich übertreibe etwas, aber sie interessieren mich erst wieder, wenn ich sie plötzlich so höre, als sei es das erste Mal. Wenn ich sie höre, so wie ich sie geschrieben habe, dann ist das kein gutes Zeichen, ich mag das überhaupt nicht. Ich möchte also wirklich, dass diese Dialoge ganz und gar aus meinem Gedächtnis verschwunden sind und dass sie durch die Qualität der Interpretation ganz und gar neu werden. Die Interpretation ist ja der entscheidende Punkt bei den Dreharbeiten: Wie schafft es dieser Junge, wie schafft es dieses Mädchen, sich diese Worte anzueignen, und welche Musik werden wir zusammen damit machen?

Freiheit

Ich glaube stark an die Freiheit der Schauspieler, und ich sporne sie an, so frei, so einfallsreich zu sein, wie sie nur können. Es ist meine Aufgabe, sie anzuspornen. Ich bin nicht dazu da, einfach nur ihren Angeboten zuzusehen. Das Angebot, was schliesslich gemacht wird, befindet sich immer zwischen dem, was sie machen möchten, und dem, was ich mit diesen Worten eigentlich tun möchte. Wenn ich so viel drehe, dann weil ich manchmal das Gefühl habe, dass der Weg nicht einfach zu finden ist. Ich versuche niemals zu Dreharbeiten zu kommen mit einer Auflösung oder mit bestimmten Vorsätzen. Ich habe das Drehbuch weder Nachts, noch am Abend, noch am Morgen noch einmal gelesen und mir dabei gedacht: „Hier besonders das betonen… Nicht vergessen, dass… Dies ist sehr wichtig…“ Ich weiss weniger, wenn ich zum Dreh komme, als die Schauspieler. Sie kennen den Text. Ich versuche, ihn vergessen zu haben. Ich versuche also, ein bisschen Unschuld mitzubringen, auch wenn es keine echte ist, aber trotzdem ein bisschen so etwas wie Unschuld. Wenn ich also eine Szene beginne, wenn mich ein Schauspieler fragt nach dem Sinn von etwas, versuche ich im allgemeinen, etwas an der Frage vorbei zu antworten, denn ich habe keine Lust, dem Schauspieler sofort die Wahrheit der Szene zu geben, damit es nach drei Takes im Kasten ist. Ich will erst sehen, was er mit der Szene anfängt, was er darin findet, und wenn ich dann sehe, was er mir – oftmals schüchtern – anbietet, dann kann ich mir sagen, hier, das ist interessant was er da zu entdecken anfängt, versuchen wir, ihn ein bisschen in diese Richtung zu bringen.

Worte

Worte scheinen etwas zu bedeuten, und so neigen die Schauspieler dazu, gleich ziemlich deutlich in eine Richtung zu spielen, weil sie verstanden haben, dass die Worte das und das bedeuten, und sie liefern uns gleich die Wiedergabe dieser Bedeutung. Dabei fragt man sich oft, wenn man eine sehr, sehr bedeutsame Szene hat: Legen wir da nicht zu viel Gewicht drauf? Er ist doch schon da, der Sinn der Szene. Es ist also eher so, dass man im Lauf der Arbeit nach und nach ganz sanft etwas wegnimmt, damit nicht die Oberfläche der Szene sichtbar wird, sondern vielleicht ein bisschen etwas von dem, was unter ihr liegt, dass man das, was schon gesagt wurde, nicht zu sehr betont, dass man vielleicht versucht, die Sachen auszudrücken, die nicht von den Worten gesagt werden. Vielleicht ist es ebenso interessant zu erfahren, warum diese Figur diese Worte sagt. Sagt er sie mit wirklicher Aufrichtigkeit, sagt er sie mit ein bisschen Scheinheiligkeit, sagt er sie, weil er es nicht schafft, etwas anderes zu sagen, und versuche ich das, was er nicht sagen kann, anzudeuten oder nicht?

Ich verstehe nicht viel von Musik, aber ich habe mich an einem kleinen Stück von Beethoven festgebissen, die letzte Sonate, Opus 111. Ich habe zuhause mindestens 25 oder 30 Versionen davon, und bald werde ich 50 oder 60 haben. Es ist interessant, zu sehen, was man aus der gleichen Partitur alles machen kann. Man kann alles oder nichts daraus machen, es kann sehr bewegend sein oder völlig daneben. Man muss also den Worten, so wie sie geschrieben sind, eine Bedeutung beimessen und sich aber gleichzeitig bewusst sein, dass die Worte nicht ausreichend sind, dass man mit der gleichen genialen Partitur, der 111 von Beethoven, Sachen machen kann, die völlig daneben und ohne jedes Interesse sind, oder solche, die den Zuhörer in seinem tiefsten Innern ergreifen. Ich komme immer wieder auf die Interpretation zurück. Sie hat eine so grosse Bedeutung.

Stars

Ich habe meist ein kompliziertes Verhältnis mit berühmten Schauspielern, und deswegen treffe ich sie auch nicht. Ausserdem mache ich Filme, die sie vielleicht nicht so sehr interessieren. Diese Leute müssen oft sofort ihr grosses Talent oder ihr Genie zeigen, indem sie sofort etwas anbieten, das man dann nehmen kann oder nicht. Und ich sollte es schon nehmen, denn schliesslich zahlt man ihnen viel Geld dafür. Man gibt ihnen also die Szene und eine kleine Erklärung dazu, und davon ausgehend finden sie dann die für sie richtige Nuance in einem, zwei oder drei Takes, und wenn man mehr verlangt, verweigern sie die Zusammenarbeit. Mich fängt die Szene aber erst mach sechs, sieben Einstellungen an zu interessieren, wenn ich den Weg sehe, den wir gegangen sind, die Pausen, die man machen kann, die Wechsel im Tonfall. Es ist enorm, was man mit einer kleinen Szene machen kann, was man falsch machen und was man gut machen kann. Ich brauche also Zeit, und ich bedauere es, dass ich nur 20 oder 25 Takes habe und man mir sagt: Was machen Sie bloss mit 20 oder 25 Takes? Ich versuche, ein ganz kleines bisschen etwas über die Wahrheit der Szene herauszufinden, wenn es denn eine gibt, oder etwas über die Wahrheiten, eine Auswahl zu treffen mitten in dem ganzen Durcheinander. Und mir scheint, dass dieses Durcheinander eine grosse Aufmerksamkeit verlangt und viel Zeit. Und es ist sehr aufregend. Ich verstehe also nicht, warum einige Schauspieler den Stier unbedingt sofort um die Ecke bringen wollen. Man muss erst an der Szene gearbeitet haben, bevor man den Stier bei den Hörnern packen und ihn umbringen kann. Ich mag es nicht, Szenen einfach so zu erledigen.

Kinder

Ich mag keinen Gegensatz aufmachen zwischen Kindern und professionellen Schauspielern, das hat nicht viel Sinn. Aber sie haben weniger Ego-Probleme, sie wollen einem unbedingt eine Freude machen. Und dann haben sie nicht schon eine Meinung im voraus darüber, wie man etwas spielt. Sie erwarten viel von mir, und ich erwarte auch viel von ihnen: Dass sie mir geben, was sie sind und wer sie sind, das erwarte ich sehr stark. Aber sie beunruhigen mich nicht. Ich bin ganz ruhig, wenn ich mit ihnen arbeite, wohingegen mich einige Profis, vor allem die Männer, manchmal beunruhigen, weil ich sehr gut sehe, wie sie gleichzeitig die Szene erledigen und den Regisseur loswerden wollen. Als gäbe es keine Regisseure, als könnte man die Filme ohne sie machen, als sei das viel besser. Und man sieht ja, dass es bei Schauspielern so ab 35, 40 Jahren eine Tendenz gibt, Regisseur zu werden, um den Regisseur loszuwerden.

Wegstrecke

Ich habe immer eher lange Einstellungen gedreht. Ich ziehe es vor von einem Schauspieler bestimmte Variationen zu verlangen, statt sie in der Montage künstlich herzustellen. Ein Stückchen Dialog in drei leicht unterschiedlichen Tonlagen zu drehen und dann den ganzen Rest auch so zu drehen und zu sagen, im Schnitt werden wir dann ja sehen, das schien mir schon immer eine Katastrophe zu sein, ein schreckliches Fehlen eines Standpunktes. Bei den langen Einstellungen hat man den Vorteil, dass man sich sagt: Du hast dieses Stück Weg, das ist nicht nichts, und auf diesem Stück gilt es, alles zu erfinden, alle Nuancen zu finden. Alles, was während der ersten Takes gesagt wurde, wird von Nutzen sein, und so warte ich, dass etwas passiert, dass der Schauspieler mit der Szene „niederkommt“ – in der Regel passiert das zwischen dem 12 und dem 20. Take. Es ist sehr schwer, etwas mit Worten zu erklären, was immer einen Bezug mit Musik hat und mit Intuitionen, die aus dem Moment erwachsen. Du kommst Schritt für Schritt vorwärts, Take für Take, indem Du ein paar Sachen sagst, die man dann beibehält oder nicht. Und das alles ergibt dann eine Art kleines Aufgabenheft, und mit diesem Aufgabenheft kann der Schauspieler ein bisschen Selbstvertrauen fassen, bis er es schliesslich schafft, sich etwas von den Worten und den offensichtlichen Bedeutungen zu lösen. Ich erwarte also jedes Mal alles von einem Schauspieler. Ich bin sehr präsent zwischen den Einstellungen oder sogar während der Einstellungen – manchmal sage ich sogar etwas während der Einstellung. Aber auch wenn ich so präsent bin, heisst das nicht, dass ich mich nicht auch täusche.

Es hat nichts mit einer blossen Wiederholung zu tun. Es gibt nichts, das man gewissermassen fotokopieren könnte, wenn man nur jedes Mal ein richtiges Original, ein richtiges erstes Mal gefunden hat. Bloss weil man eine Einstellung 14 Mal gemacht hat, hat man sie noch lange nicht 14 Mal wirklich gespielt. Bei der Einstellung, die dann „die gute“ wird, wird es das erste Mal sein, dass man sie so gespielt hat. Die anderen Einstellungen sind dann sofort tot. Man muss also dieses Leben finden, das eine Szene durchdringt und die ein bisschen das Gefühl von Improvisation vermittelt. Man hat mich oft gefragt, ob meine Filme sehr improvisiert sind oder bis zu welchem Punkt sie improvisiert sind? Es gibt in meinen Filmen fast keine Improvisation. Aber ich glaube, dass es ein Ergebnis der Arbeit ist, wenn es so aussieht, als sei etwas ganz und gar neu, als würde diese Szene plötzlich so passieren, obwohl sie die Frucht von mehreren Stunden Arbeit ist. Manchmal haben wir morgens angefangen, und die Einstellung kam um fünf Uhr Nachmittags. Ich weiss nicht, wann wir die jeweilige Szene bekommen, und es ist mir auch fast egal. Wichtig ist nur, dass wir sie hinkriegen. Oft kommt dann ein Punkt, wo ein bisschen Müdigkeit aufkommt, weil es eine unglaubliche Energie verlangt, zu spielen und sich so sehr zu konzentrieren. Dieses bisschen Müdigkeit sorgt dafür, dass die Schauspieler nicht mehr ganz so auf der Hut sind. Und manchmal ist es gerade dann, dass sie es schaffen, die Szene zu durchdringen.

Masken

Das Kino ist ein Kampf gegen die Kunstgriffe. Gegen die Kunstgriffe, die wir den Schauspielern vorschlagen, und die sie uns von Zeit zu Zeit vorschlagen. Man muss also versuchen, auf beiden Seiten das wegzulassen, was man dem Partner schon oft vorgeschlagen hat, ob der Partner nun der Regisseur oder der Schauspieler ist. Ich glaube, man muss etwas suchen, das ihm eigen ist. Es interessiert mich nicht, wenn ein Schauspieler eine Maske trägt und die Figur benützt, um sich hinter ihr zu verstecken. Viele Schauspieler neigen dazu, dass sie zwar gerne gefilmt werden, sich aber gleichzeitig hinter ihren Figuren verstecken. Wenn ein Schauspieler mit mir arbeitet, mag ich es, wenn wir versuchen, Sachen zu finden, die ganz tief von ihm kommen, die er teilweise eventuell gar nicht kontrollieren kann und die ich vielleicht gar nicht sofort sehe, die ich von ihm noch nicht kenne. Ich mag es, wenn er mir etwas von sich gibt. Das ist es, was ich von der Arbeit mit Schauspielern erwarte.

Das Interview führte Jens Börner Ende Juni 1999 in München. Übersetzung und Bearbeitung: Jens Börner.

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