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Interview: Barbara Albert

Schmid: Kannst du noch benennen, was der Auslöser für „Böse Zellen“ war?

Albert: Es gibt ja nicht immer den einen Auslöser, sondern immer mehrere Dinge, die einen zum Zeitpunkt des Schreibens beschäftigen, im Fall von „Böse Zellen“ war das auch so: der tödliche Autounfall von Freunden und Bekannten z.B. Oder meine Flugangst. Dann gab’s da diese Geschichte mit dem Flugzeugabsturz. Da ist eine Frau, ein Deutsche, in den 70er Jahren irgendwo abgestürzt, hat als einzige überlebt und ist dann später doch bei einem Flugzeugabsturz gestorben. Völlig absurd. Das hat mich immer beschäftigt.

Hochhäusler: „Böse Zellen“ ist ein sehr komplexer Film. Er besteht aus sehr vielen Teilen und wirkt auf mich wie eine Explosion: Da hat offensichtlich etwas stattgefunden, und die Teile fliegen dir entgegen. Wie versuchst du, dessen Herr zu werden?

Eines der ersten Dinge war, dass ich gesagt habe, ich möchte die Hauptfigur ganz schnell sterben lassen. Ich war mal in einem Film, wo die Hauptfigur ziemlich bald stirbt. Es war schwer, sich damit abzufinden. Dann aber plötzlich ist sie doch nicht tot, und das hat mich sehr geärgert. Die muss wirklich tot sein! Tot ist aus! Da gibt’s nix. Diesen Schock und den Verlust eines Todes wollte ich nachvollziehbar machen.

Wenn ich an eine neue Sache rangehe, dann sammle ich grundsätzlich Bilder und Figuren und Ideen, und wie bei einem grossen Puzzle entsteht daraus dann ein Film. Ich schreibe Situationen auf, wo ich die Figuren sehe und Motive wie zum Beispiel den Flugzeugabsturz oder den Autounfall. Und es gibt bestimmte Momente: Zum Beispiel möchte ich, dass ein Sarg hinuntergelassen wird. Dann nehme ich diese Motive und stülpe sie auf die Figuren. Das ist der Anfang und später ergibt sich aus all dem, ob immer noch jedes Motiv zu der Figur passt, der ich es zugeordnet habe.

Aber ich stehe auch sehr auf Strukturen und arbeite sehr früh daran. Früher, bei „Nordrand“, habe ich mir deswegen Karteikarten gemacht. Mittlerweile habe ich Leisten, wo ich festlege, wann was passiert. Extrem wichtig sind mir auch immer die Übergänge. Wie hört eine Szene auf, wie fängt die nächste an, und was bewirkt das? Das ist beim Schreiben schon sehr ausschlaggebend für eine Reihung.

S: Wenn du sagst, du arbeitest mit Notizen und mit Zettelkasten, heisst das dann automatisch, dass es viele Figuren werden?

Ich möchte immer so viele unterschiedliche Dinge erzählen, dass ich sie nicht in eine Figur reinstopfen kann. Es ist für mich gar nicht möglich zu sagen, ich möchte jetzt weniger Figuren daraus machen, weil ich vieles nicht wegwerfen kann oder will.

S: Du könntest es ja aufheben für das nächste Mal.

Mit dem Aufheben habe ich eine Philosophie für mich selber: Alles, was ich beim Schreiben zurückhalte, ist nicht gut. Je mehr, desto mehr, glaube ich. Früher habe ich manchmal für andere Kurzfilmdrehbücher geschrieben und gedacht, ach, das würde ich gerne selbst in einem Film verwenden. Ich habe mich aber immer gezwungen, es trotzdem zu verwenden, und dann entwickelte sich was daraus oder man merkte irgendwann, dass es das nicht ist. Aber zu sagen: Die Figur hebe ich mir für den nächsten Film auf. Daran glaube ich nicht.

H: Sowohl visuell, als auch von den Figuren gibt es in „Böse Zellen“ eine wahnsinnige Breite an Widersprüchen und an verschiedenen Richtungen. Die meisten FilmemacherInnen, mich eingeschlossen, verbieten sich so etwas, weil sie zu einer Reinheit wollen. Aber was ich toll finde, ist, dass sich in diesem Nebeneinander eine Vielstimmigkeit entwickelt. Am Ende des Filmes habe ich ein ganz starkes Gefühl für die Welt, viel stärker, weil auch viel arbeitender, viel widersprüchlicher, als wenn ich einen Film habe, der einer Perspektive folgt und sich alles verbietet, was von diesem Pfad wegführt.

Ich bin extrem wenig formalistisch. Ich sage auch nicht, es geht nur ums Gefühl. Alles ist erlaubt. Aber gerade wenn du jetzt andere österreichische Filme anschaust, einen Ulrich Seidl oder Filme von Jessica Hausner oder Haneke, die sind alle sehr viel strenger. Ich merke einfach, ich bin das nicht. Auch wenn es mir sehr gut gefällt, bin ich nicht so puristisch. Ich möchte auch Gefühle bedienen. Ich möchte im Kino weinen, aber ich mag nicht, wenn mir jemand sagt: „Weine jetzt!“ Das ist klar. In gewissen Dingen finde ich „Böse Zellen“ strenger als „Nordrand“. Zum Beispiel bei der Musik habe ich bei „Nordrand“ noch gesagt: „Nehmen wir ein bisschen Musik, hauen wir die über die schönen Bilder drüber.“ In „Böse Zellen“ kommt ausser beim Abspann nur Musik vor, die durchs Bild gerechtfertigt ist. Ich finde, man kann schon ins Volle greifen in manchen Momenten, aber meine Grenze ist da relativ niedrig.

H: Die Grenze ist dein Gefühl?

Ab wo wird es kitschig? Ich glaube, einfach ab da, wo man die Absicht merkt. Wenn viele Figuren und viele Geschichten in einem Film erzählt werden, ist es klar, dass aus Reduktion eine Spannung entsteht. Aber wenn ich nur eine Figur habe, dann ist die Frage, wie sehr ich reduzieren will, weil es sonst zu puristisch wird.

H: Das führt auch zu einer Distanz für dich als Zuschauer.

Ich glaube, es hat sehr viel mit Distanz zu tun. Ich kann mit meinem Verstand bei einigen Filmen, die recht distanziert mit dem Zuschauer umgehen, sagen, das finde ich toll. Aber irgendwie ist es trotzdem für mich das Grösste, wenn ich auch nur einen Moment lang in einem Film spüre, dass ich die angreifen kann, dass ich die Haut spüre oder auch ein Glas – dass ich einfach die Welt spüre.

H: Mein Eindruck beim Wiedersehen des Films war, dass es eine Gleichzeitigkeit gibt von einem mitfühlenden Blick und vom Blick des Insektenforschers. Das sehe ich sehr selten. Die meisten Filme entscheiden sich für eine Seite.

Ich bin lieber nicht Insektenforscher, weil ich die Haltung sehr arrogant finde. Ich habe Probleme damit, wenn ich auch nur ein bisschen das Gefühl habe, dass Figuren benutzt oder ausgestellt werden. Aber ich habe einmal in einem Film gespielt und da bei einer Einstellung genau das erlebt, was wahrscheinlich auch der Film sein sollte: Nämlich dass du gleichzeitig bei dir bist und draussen. Ein Glückszustand, in dem du etwas einen Moment lang emotional spürst und es gleichzeitig von aussen betrachtest. Wenn du auf einmal merkst, du steigst neben den Film und verstehst etwas – aber nicht mit dem Verstand. Plötzlich ist etwas da. Irgend etwas öffnet sich kurz.

H: Du hast einmal gesagt, du hast das Gefühl, wenn du drehst, machst du das Drehbuch kaputt.

Das hat sich ziemlich verändert. „Böse Zellen“ war der erste Film in meinem Leben, wo ich beim Drehen keine Depressionen hatte, sondern wirklich drehen wollte. Dabei ist für mich ein ganz wichtiger Schritt gewesen, dass ich endlich akzeptiere, dass man Fehler macht. Wie diese schöne Geschichte von Lars von Trier, der überall für seine Crewleute hingeschrieben hat: Make mistakes!

H: Weil der Fehler auch dem Ganzen etwas hinzufügt.

Und weil es keine Fehler gibt! Weil es nicht richtig und falsch gibt. Ich habe immer gedacht, es gibt das Richtige. Wirklich ganz schwarzweiss, und sehr katholisch, glaub ich, habe ich wirklich das Gefühl wie bei einem Puzzle oder Kartenhaus gehabt: Wenn ein Teil nicht stimmt, fällt alles zusammen, aber nicht nur der Film, sondern auch dein Leben. Ich stehe und falle mit dem Film, weil er das Ergebnis von drei Jahren meines Lebens ist. Aber es gibt zwei Ansätze. Der eine ist: Du musst etwas erfüllen. Das Drehbuch, zum Beispiel, ist dein Bild von etwas, und das musst du jetzt erfüllen. Der andere ist: Ich schaffe etwas. Und dieses „Ich erschaffe“ – das ist für mich irrsinnig neu. Ich habe immer nur gesagt, „Ich finde etwas“ und das heisst: Ich habe damit ja gar nichts zu tun. Das ist schon die Angst davor, irgend etwas zu schaffen. Zum Teil habe ich aggressiv reagiert, wenn sich die Leute als die grossen Schaffenden fühlen, die die Welt erstehen lassen, weil das natürlich ein grosses Selbstbewusstsein ist, wenn jemand das mit so einer Sicherheit sagt. Aber ich habe lernen müssen, mir auch ein bisschen was davon anzuziehen, weil du die Verantwortung hast und weil du natürlich etwas erschaffst. Das macht einem Druck, und deswegen verweigert man es. Die Entwicklung geht dahin, dass ich sage, okay, ich schaffe etwas, und es kann auch falsch sein.

H: Ich finde toll, dass sich ein Risiko, was eingegangen wird, mitteilt, zum Beispiel, dass du den Mut hast auch das Peinliche zuzulassen.

Für mich ist es eine extreme Gratwanderung gewesen. Das ist weniger mit dem Kopf passiert. Ich wollte einfach Sachen ausprobieren. Vielleicht aufgrund der Bestätigung, die „Nordrand“ mir gegeben hat, habe ich gedacht, jetzt scheiss ich mir nix, das mach ich jetzt einfach. Ich will das probieren, was soll mir passieren?

H: Man hat auch immer wieder das Gefühl, man nimmt an einem Experiment teil und ist sich auch nicht sicher, wie man den Film findet.

Das hat der Film ganz stark. Das habe ich bei allen gemerkt, die ihn bisher gesehen haben. Manche Menschen wissen nicht, wie sie ihn nehmen sollen. Wir haben auch kleine Testscreenings mit Fragebögen gemacht. Meine erste Frage war: „Wie gehst du aus dem Film raus?“ Und eigentlich alle haben „irritiert“ geschrieben. Das hat mir sehr gefallen. Weil der Film für mich genau das ist. Es ist ein Film, wo es um den Tod geht, und das ist irritierend! Das Grundgefühl, was ich vermitteln wollte, war, dass du auf Glatteis gehst. Die ganze Zeit suchst du Zusammenhänge, Verknüpfungen, Verbindungen und freust dich über jeden Zufall, der dir das Gefühl gibt, dass es irgendwo einen Sinn gibt. Aber du kannst trotzdem nicht mehr darüber sagen, ausser dass du auf der Suche bist, es aber nie weisst. Bauen wir uns diese Zusammenhänge nur im Nachhinein? Oder gibt es doch einen Sinn?

S: Unabhängig von dem übergeordneten Thema, Leben und Tod, stelle ich fest, dass so gut wie alle Figuren nicht miteinander reden können. Ist das dein Gefühl, dass die Leute einfach nicht miteinander reden können?

Grundsätzlich glaube ich, dass die Welt so ist, aber ich finde das auch nicht so schlimm. Insofern stimmt das mit den Insekten vielleicht. Ich sehe die Welt so. Für mich sind die Menschen in „Böse Zellen“ alle extrem gefangen in ihrer Welt. Die Leute kriechen auf der Erde dahin, und da gibt es nicht viele Ausblicke woandershin, auch kein Schauen in den Himmel oder so. Ich finde es sehr tragisch, sehr traurig auch, dass es bei uns so sein kann, und ich glaube, dass wir sozial irrsinnig unfähig sind. Um so mehr freut es mich, wenn dann ein kleiner Moment ist, wo irgendein Kontakt da ist.

H: Kann der Film gesellschaftlich eine Rolle spielen?

Eigentlich komme ich aus einer sehr sozialkritischen Ecke. Ganz am Anfang wollte ich Filme machen, um anzuprangern. Und gerade in Österreich war das in den letzten Jahren ganz stark ein Thema: Was können Filmschaffende überhaupt politisch tun? Ich habe irgendwann für mich akzeptiert, dass immer nur die Gemeinschaft von Filmen etwas aufzeigt, ein Stimmungsbild ist, vielleicht auch zum Nachdenken anregt. Die Welt verändern kann ein einziger Film wahrscheinlich eh nicht.

H: Ich glaube, es ist unbestreitbar, dass Film Einfluss auf unser Leben hat. Die Frage ist, inwieweit wir darüber Kontrolle haben als Filmemacher. Das ist dieses alte Propagandaproblem.

Mich interessiert Utopie sehr. Ich will, dass die Welt gut ist, ganz naiv. Mich interessieren Menschen irrsinnig, die sich dem verschreiben. Die Helden, die fürs Gute kämpfen, die wirklich die Welt retten wollen. Und ich glaube mittlerweile, dass es wahrscheinlich eher funktioniert, wenn du’s im Positiven machst als im Negativen.

H: Du findest also, man sollte sozusagen für das „richtige Leben“ Propagandafilme drehen.

Jeder Zeigefinger ist schlecht, da nimmt niemand was an. Wir leben in einer Zeit, wo die Parteien total den Bach runtergehen, weil niemand mehr an irgendeine Formel glaubt. Viele denken: Es gibt eh keine Lösung, das Leben ist so kompliziert, da lass ich’s lieber ganz, drüber nachzudenken. Jetzt ist die Frage, was macht man dann? Ich finde spannend, mir als Filmemacherin immer bewusst zu sein, dass es auch ein Ziel ist, Menschen darauf hinzuführen. Ich habe über „Böse Zellen“ gesagt, er sei viel zu wenig politisch, viel zu wenig gesellschaftskritisch im Vergleich zu dem, was ich von mir selber wollte. Er ist vielleicht sogar ein privater Film.

H: Was meinst du damit?

Da verarbeite ich meine Angst vorm Tod. Privat.

H: Aber das doch nicht in privater Form?

Nein, aber es gibt ja beides. Ich sage mit dem Film nicht: „Schaut’s euch an, unsere Gesellschaft“. Sondern ich nutze meine Sicht auf die Welt für etwas, was eigentlich auch sehr mit mir zu tun hat. So empfinde ich das. „Nordrand“ war für mich umgekehrt: Da wollte ich was aufzeigen, habe dazu aber private Dinge benutzt.

S: In deinen Filmen portraitierst du in erster Linie Menschen aus sozialen Randschichten. Wir, die wir einen Hochschulabschluss haben und Filme machen, kommunizieren anders, gehen anders auf die Probleme des Lebens zu als etwa der Staubsaugerverkäufer im Supermarkt in „Böse Zellen“. Fühlst du dich diesen Menschen in gewisser Weise verpflichtet?

Ich glaube, es hat ehrlich gesagt nicht unbedingt nur mit Schicht zu tun. Ich kann mir vorstellen, dass es wirklich genügend Hochschulprofessoren gibt, die im Leben total scheitern, weil sie nicht kommunizieren können. Bei „Böse Zellen“ hab ich absichtlich mit sehr unterschiedlichen Schichten gearbeitet. Da sind Schüler, ein Lehrer, eine macht nix, eine arbeitet in einem Kaufhaus, eine im Supermarkt. Wie viel Prozent der Menschheit hat eine Ausbildung, die unserer entspricht? Das ist ja so wenig. Insofern sehe ich mich nicht als Anwältin, sondern sag einfach, der Grossteil der Menschheit ist so. Der Grossteil der Menschen arbeitet halt im Supermarkt.

H: Aber das steht pars pro toto. Es geht jetzt nicht um die Niederen, es ist ja kein Elendsfilm in dem Sinn.

S: Nein, ist es gar nicht. Ich find es vor allem eine absolut legitime oder nachvollziehbare Haltung, sich zum Anwalt einer sozialen Randschicht zu machen. So wie der Haushalt, in dem Nina Proll lebt, in „Nordrand“. Das ist für mich klar, dass die, die den Film macht, sich in ein Milieu begibt, aus dem sie wahrscheinlich nicht kommt. Sie möchte etwas zeigen anhand dieser Auswahl. Genauso wie es in „Lichter“ einen Matratzenverkäufer gibt und ich keinen in meiner Bekanntschaft habe. Aber ich mache das aus gewissen Gründen, weil ich zeigen möchte, wie lebt es sich da draussen in dieser Stadt oder in diesem Land in verschiedenen Milieus oder Schichten. Ich kann und will nicht immer nur die Probleme von jungen, studierten Grossstädtern reflektieren.

Ja, genau. Aber ich fände am tollsten, wenn auch Supermarktkassiererinnen meine Filme sehen. Bei „Nordrand“ habe ich das ein paar Mal erlebt, als Jugendliche den Film gesehen haben und dann zu mir gekommen sind und gesagt haben: „Genau in so einer Familie bin ich aufgewachsen wie bei der Jasmin.“ Trotzdem haben sie gesagt, der Film war echt sehr okay. Das war schon das Höchste der Gefühle. Die schauen sich sonst natürlich nur amerikanisches Irgendwas an. Ich habe mich total gefreut und gedacht, super, die können das annehmen, und es hat sie aber auch auf etwas gebracht, wo sie selber ein bisschen reflektiert haben. Das ist für mich ein Wahnsinnskompliment.

H: Ich glaube, dass es bei deinem Film leichter ist, Zugang zu finden, weil du nicht diesen cineastischen Zaun aufspannst, der auch mit Eitelkeit zu tun hat, weil er sagt: Das ist für Leute, die sich in der Filmgeschichte auskennen.

Weil ich mich selber nicht auskenne in der Filmgeschichte. (lacht) Nein, das war jetzt ein bisserl… Aber ich weiss, was du meinst.

H: Das ist ja ein altes Thema der Linken. Wie können wir, ohne einen Deut von unseren inhaltlichen Anliegen aufzugeben, populär sein? Beschäftigt dich das?

Ja, aber das ist ein Spagat, vor dem ich auch Angst habe. Ich will zum Beispiel nicht nach dem Prinzip arbeiten müssen: Man nehme einen Star, man nehme dies und jenes, und dann kannst du den Inhalt transportieren, den du willst. Da bin ich zu sehr Cineastin. Die Machart interessiert mich natürlich auch.

H: Womit ich mich unglaublich unwohl fühle, ist dieses Gefühl, von den richtigen Leuten gut gefunden zu werden. Ich glaube, dass der Film unglaublich darunter leidet. Also dieses Arthouse-Ghetto.

Das ist auch ein Problem der deutschsprachigen Kultur, es gibt ja nur bei uns E und U. Im angloamerikanischen Raum gibt’s nicht so sehr diese Unterscheidung zwischen ernster und Unterhaltungsliteratur.

S: Im Bereich des Films schon, glaube ich. Die Leute jedenfalls, die jetzt im August „Lichter“ im Kino sehen, die muss ich nicht davon überzeugen, dass Flüchtlinge ein Recht haben, ihr Glück hier zu finden. Aber die, die ich davon überzeugen müsste, die werden sich den Film nicht ansehen.

H: Aber vielleicht ist die Ebene auch nicht die wirksamste. Ich meine dieser offensichtliche politische Gehalt. Was wir von einem Film wie zum Beispiel „Böse Zellen“ mitnehmen können, sind Modelle, mit denen wir über das Leben sprechen können, und damit gibst du mir eine Möglichkeit, mich zu verändern.

Wenn ich, zum Beispiel, in zehn Filmen hintereinander sehe, dass Frauen auch aktiv sein können, dann verändert sich einfach mein Frauenbild. Wo ich die wirkliche Gefahr sehe, sind Inhalte, die sexistisch sind und politisch total rückschrittlich, denn die Bilder sind stark, gehen ins Unbewusstsein und bleiben. Die Möglichkeit für uns ist wahrscheinlich, einfach nur Figuren zu zeigen, die wirklich mutig sind und die Dinge in die Hand nehmen, die sagen, ich möchte etwas verändern. Und wenn es im Kleinsten ist.

Letztes Jahr hab ich ein Drehbuch geschrieben, „Auswege“, das war eigentlich eine Auftragsarbeit für die österreichischen Frauenhäuser, die Geschichte von drei Frauen, die in Gewaltbeziehungen sind. Aber ich wusste, diese Geschichte möchte ich sicher nicht inszenieren.

H: Warum? Das ist interessant.

Weil es wirklich auch gefährlich ist. Es ist ein Propagandafilm, wo du die Aufgabe hast, Leute zu überzeugen bzw., Möglichkeiten zu zeigen, wo kann eine Frau hingehen, wenn so etwas passiert. Das war mir nicht genug Herausforderung, weil es ein bisschen eindimensional ist. Gleichzeitig das gut zu machen ist sehr schwer. Natürlich war es auch die Angst davor zu scheitern, weil ich meine Grenzen kenne und weiss, dass ich extrem Respekt davor habe, Gewaltdarstellung zu inszenieren.

H: Mir ist ein Film tausend Mal lieber, der reaktionär ist, aber wahr, als ein „richtiger“ Film, der nicht wahr ist.

Wie meinst du das? Gibt es einen reaktionären wahren Film?

H: Natürlich. Es gibt Filme, da spürst du die Haltung von jemand, den du politisch inkorrekt findest, und trotzdem gewinnt der eine Wahrheit, weil er etwas genau kennt und gut beschreibt.

S: Und der ist dir lieber?

H: Der ist mir lieber als der gute Lügner. Das ist noch mal diese Propagandafrage. Man sagt ja immer, Film sei ein Medium, in dem man lügen könnte. Je mehr ich mich damit beschäftige, desto weniger glaube ich das. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass man sich eben nur selbst zeichnen kann sozusagen. Du kannst das nicht verbergen. Klar, es gibt geschickte Handwerker, die können eine Weile länger darüber hinwegtäuschen, wenn sie keine Haltung haben, aber irgendwann kommt’s raus. Da ist ein Film schon sehr durchsichtig.

Aber vieles von dem, was du jetzt beschrieben hast, Barbara, nämlich dass da Bilder gezeigt werden sollen, die so positiv sind, das sieht man in deinem Film ja nicht.

Nein, das ist ein Missverständnis. Ich mein nicht positiv. Zum Beispiel die Gerlinde. Die ist irgendwie wahnsinnig und geht durch unsere Gesellschaft, ohne dass sie Teil der Gesellschaft ist. Und ich find es gut, solche Menschen im Film zu sehen, weil es in Wahrheit so ist: Du fährst mit der U-Bahn, und eine Wahnsinnige steigt ein, und jeder denkt sich: „Bäh, grauslig“ oder „Will ich nicht“ oder, noch viel ärger, jemand beschimpft sie. In Wien, wo viele Wahnsinnige rumrennen, hab ich auf der Strasse schon so viele Beschimpfungen gehört: „Dir sollt man den Kopf abhacken“ oder so – grauenvoll! Da denke ich mir, es interessiert mich, so eine Figur zu nehmen, und man mag sie. Man findet sie nicht irgendwie komisch. Damit meine ich um Gotteswillen nicht, alles soll nur positiv sein. Das gibt es ja auch nicht. Das sind Kunstfiguren, die ich auch nicht glaube. Ich glaube, dass die Haltung immer rüberkommt. Und da kann die Chance liegen, dass einfach mehr Leute mit guten Haltungen (lacht) Filme machen, die von mehreren Leuten gesehen werden.

Das Gespräch führten Christoph Hochhäusler und Hans-Christian Schmid am 21.7.2003 in Berlin.

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