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Interview: Roland Klick

Revolver: Wie sehr ist Kino Sehnsucht? Und was macht man mit dieser Sehnsucht im Kinoland Deutschland?

Klick: Na ja, Sehnsucht haben kann man schon! (lacht) Die Frage ist, ob man sie sich erfüllen kann. Wahrscheinlich entwickelt man um so mehr Sehnsucht, je enger die Verhältnisse sind. Ich glaube, die Sehnsucht ist sogar ein Produkt der Enge. Es gibt einen schönen Satz: „Die Freiheit ist hinter Gittern geboren“. Damals, als ich in Südamerika so herumgewuselt bin, habe ich einen Völkerkundler getroffen, der erzählt hat, dass die Indianerstämme, die da im Urwald leben, kein Wort für „Freiheit“ hätten. Warum nicht? Weil sie die Unfreiheit nicht kennengelernt haben. Und so ist es wahrscheinlich mit der Sehnsucht, die ja was mit Freiheit, mit Weite zu tun hat. Und deswegen könnte Deutschland das Land der Sehnsucht und der sehnsuchtsvollen Filme sein, denn natürlich sind wir alle irgendwo in einer engen, allregulierten Gesellschaftsordnung gefangen. Jetzt wird Europa geschaffen. Man tut so, als würde die Welt dadurch grösser. Sie wird noch kleiner! Früher hatten wir noch Sehnsucht nach Spanien. Heute können wir keine Sehnsucht mehr danach haben. Man erzählt uns, alles würde freier, weil die Grenzen offen sind. In Wirklichkeit wird alles unfreier, weil das „Draussen“, das „Hinausgehen-Können“ abhanden kommt.

Du sagst, es könnte in Deutschland sehnsuchtsvolle Filme geben…

Ja – das Problem in Deutschland ist die Mentalität. Wir haben gar nicht so sehr äussere Zwänge, aber die Unfreiheit ist verinnerlicht worden. Von klein auf. Bei uns werden die Kleinen dressiert, in der Kirche stillzusitzen. Auf den Philippinen rennen die Kinder herum und spielen Fangen während der heiligen Zeremonien. Das ist das Leben, das weitergeht. Und hier in Deutschland hat man eben von klein auf gelernt, dass man stillsitzen muss. Und das weht, glaube ich, auch in unsere Filme hinein.

Hattest du den Eindruck, dass du im deutschen Film ein Aussenseiter warst? Ohne Mitstreiter?

Das ist mir erst im Laufe der Zeit klar geworden. Ich habe das am Anfang nicht gewusst. Ich bin nicht angetreten mit dem Gedanken, das zu machen, was alle anderen nicht machen. Sondern ich habe diese Unvereinbarkeiten erst nach und nach herausgefunden. Das hatte, glaube ich, damit zu tun, dass der „Junge Deutsche Film“ von Bürgersöhnen gemacht wurde. Ich bin zwar auch ein Bürgersohn – aber bedingt nur. Mein Vater kam aus dem Böhmischen Wald. Er war zwar Arzt, aber sein Vater war Lokomotivführer und der Grossvater war Holzfäller. Das war eigentlich so ein österreichisch-ungarisches „Zampano“-Geschlecht (lacht). Meine Mutter war eine gebildete Frau, spielte wunderbar Klavier und wollte auch mal Pianistin werden. Aber auch sie kam aus einer Kleinstbürgerwelt. Da war irgendein unehelicher Spross von irgendeinem Fürsten dabei und deswegen hatten die so einen kleinen Grössenwahn. Und natürlich kam Faschismus dazu. Diese Grenzleute aus dem Böhmisch-Bayrischen Wald, die wollten alle nach Deutschland. Und dann war man plötzlich SS-Mann, ohne zu wissen, wieso eigentlich. Das heisst, mein Elternhaus war kein gutbürgerliches, während die Leute des „Jungen Deutschen Films“ eigentlich alle aus dem gehobenen Bürgertum kamen – erzogen mit Thomas Mann und so weiter. Das fehlte bei mir alles. Ich bin immer so ein bisschen das Strassenkind gewesen. Und ich glaube, das hat dazu geführt, dass ich so physische Filme gemacht habe, die im Umfeld der intellektuellen Anspruchsfilme der 68er Jahre Fremdkörper bleiben mussten. Dazu kam, dass ich meine Filme immer leben musste, um sie zu begreifen! Ich brauchte immer eine physische Erfahrung, um etwas Intellektuelles zu begreifen und es dann wiederum – denn im Kino genügt das Begreifen ja nicht – im Bild zum Ausdruck zu bringen. Das ist eigentlich mein Grundbekenntnis.

Als du feststellen musstest, dass du nicht „passt“ – hast du nicht daran gedacht, ins Ausland zu gehen?

Ich glaube, dass sich auch meine Kreativität an den Widerständen entzündet hat. Mein erster Film „Weihnacht“ hat das eigentlich schon thematisiert. Da ist ein kleiner Junge, der steht auf der Strasse im Winter mit einem Mützchen, und oben kommt ein Flugzeug von einem Dachfenster heruntergetaumelt – ein Papierflugzeug -, und es bleibt auf dem Fensterbrett liegen. Er kann es also nicht haben. Also spielt er selber Flugzeug, breitet die Arme aus zu einer Bachmusik, und läuft in die Stadt hinein. Und das ist eine weihnachtliche Stadt, da tobt der Konsumkrieg. Und die Leute passen mit ihrem ganzen Zeug, das sie gekauft haben, nicht in die Strassenbahn und die Türen gehen nicht zu. Und zwischen all diesem Trubel, zwischen den Fensterscheiben gespiegelt in irgendwelchen Dekorationen ist immer der kleine Junge. Und am Ende stösst er auf einen Losverkäufer, der in der Nacht mit seinem dunklen Hut und dunkelschwarzen Mantel Lose verkauft. Und der schenkt diesem kleinen Jungen ein Los. Nun müsste er eigentlich das Los aufmachen, gucken, ob er was gewonnen hat. Nein! Er macht das Los auf, klappt es auseinander, baut sich ein kleines Papierflugzeug und setzt seinen Flug fort über eine Eisenbahnbrücke hinaus in die Nacht. Da taumelt er so davon… Heute weiss ich, dass das fast ein Programm für meine Existenz war. Ich will einer Welt, die nur Besitz kennt, diesen „mind-over-matter“-Gedanken bringen: Der Geist ist das entscheidende Element.

Für mich ist Film ein wunderbares Mysterium. Kino, das ist der Ausdruck des Geistes durch die Materie. Man filmt die stoffliche Welt: eine Wand, Menschen, im Hintergrund ein Schiff… und daraus setzt sich ein geistiger Ausdruck zusammen. Das ist so in den grossen Filmen, die ich geliebt habe, wie in Fellinis „La Strada“. Dort drückt sich ein wunderbarer Geist der Liebe und des Erlösungswunsches durch das Filmen von materiellen Dingen aus – die Körper sprechen. Das ist ja auch das, was sich die moderne Quantenphysik heute auf ihre Fahnen schreibt: „Materie ist ein Geisteszustand“. Wenn wir Materie immer weiter auseinandernehmen, bleibt nichts übrig als Energie – und diese Energie ist irgendwie geformt. Das Geformte setzt ein Formendes voraus. Was formt die Materie? Es ist ja alles dieselbe Energie. Wenn ich Energie nehme und forme sie, dann entsteht Gold oder Ziegelstein oder Blei. Es ist offensichtlich der Geist, der die eine Form oder die andere Form hervorbringt aus demselben Material. Mit anderen Worten, jedes materielle Ding ist Ausdruck von Geist. Und mit dieser Philosophie landet man dann bei den Alchemisten, die gesagt haben: „Wenn mein Geist stark genug ist, dann kann ich aus Blei Gold machen“.

Ein Regisseur ist für dich ein Alchemist?

Absolut. Ein Regisseur ist ein Alchemist. Du hast lauter banale Dinge und setzt sie plötzlich zu dem goldenen Ausdruck eines Geistes zusammen. Wie Fellini in „La Strada“: Aus lauter Dingen, die die Bürger sich verbitten, die sie verlachen oder einfach übersehen haben, macht er ein Stück Gold.

Fühlst du dich missverstanden, wenn man dich als „Genreregisseur“ bezeichnet?

Natürlich! (lacht) Ich setz mich nicht hin und sage: „Ich mache jetzt Genre“. Sondern ich spüre plötzlich, dass sich für mich in einem bestimmten Genre oder in einer Geschichte, die eben Kinogeschichte ist, eine Welt offenbart. Die Tatsache, dass sich eine Geschichte in einem Genre bewegt, schliesst die Weite überhaupt nicht aus. Und auf der anderen Seite hat sie den Vorteil, dass sie den Menschen, die diese Weite nicht unbedingt in sich tragen, trotzdem etwas bietet, was sie fasziniert. Also, ich kann heute jemand in Schillers „Wallenstein“ reinschicken, und da sitzt jeder da, der gutes Kino liebt, und ist einfach gespannt. (lacht) Dieser Kerl war ja eigentlich auch Genredichter. Der hat einfach phantastisches Drama geschrieben, das die Vorlage für den besten Reisser sein könnte, in seiner geschickten Verknüpfung von Dramaturgie, Betrug, Gegenkraft, Vernichtung und Intrigen. Das ist Genre und zugleich ist es natürlich hochgeistiger, deutscher Idealismus von Schiller. Also, ich glaube, dass dieser Unterschied künstlich ist.

Du hast ja nach „Deadlock“ Angebote bekommen, Italowestern zu drehen. Die hast du alle abgelehnt.

Richtig. Weil ich genau wusste, dass ich da eben in der Billigwarenabteilung gelandet wäre. Wir leben ja in einer Phase der Benutzung des Kinos. Man benutzt das Kino und seine manipulativen Möglichkeiten, um Kohle zu machen. Ich bin nicht dagegen, dass mit Film auch Kohle gemacht wird, im Gegenteil, meine Filme haben zum Teil auch viel Geld verdient. Nur, am Anfang stand der Ausdruck von etwas, um das es mir ging. Ich habe versucht, diese angebliche Dichotomie aufzuheben, aber dieses „Kunst oder Kasse“ regiert immer noch. Heute heisst es, dass sich der „Junge Deutsche Film“ irgendwie nicht für das Publikum interessiert hätte und es entstehen Filme, die angeblich nur noch publikumsbezogen sind – das heisst, die Verkaufszahlen diktieren das Thema. Natürlich sitzen da Menschen! Und die wollen ihren Spass haben. Es ist wie im Jahrmarkt, man will, dass die Leute lachen. Das heisst aber doch nicht, dass ich ihnen nach dem Munde rede und ihnen erzähle, was sie sowieso schon wissen! Sondern ich bringe ihnen etwas, was ich weiss, und was Ausdruck meiner Persönlichkeit ist. Das ist für mich die Balance.

Würdest du deine Filme als autobiographisch bezeichnen?

Das sind sie, obwohl mir das damals gar nicht klar war. Ich wollte ja am Anfang eigentlich „Akkord“ machen, das war so eine Geschichte, die ich auch selbst gelebt habe. Ich bin aus dem Elternhaus ausgebrochen, wollte in die grosse weite Welt, bin hier in Hamburg am Hafen rumgerannt, um zur See zu fahren. Einfach mal, weil Jack London das auch gemacht hat. (lacht) Das gehört sich einfach so. Und dann hatte ich ein Schiff gefunden als Maschinenreiniger – ein Trampschiff nach Südamerika. Trampschiff heisst, dass man nicht weiss, wann es zurückkommt. Und ich unter Deck als Maschinenreiniger! Es wäre sicher eine Katastrophe geworden. (lacht) Ich hatte das Glück, dass ich damals noch die Unterschrift der Eltern brauchte – ich war gerade erst achtzehn und damals war man erst mit einundzwanzig volljährig.

Statt dessen habe ich dann angefangen, Autos zu überführen – das war auch so ein Job, wo man unterwegs war – und bin in so eine halbkriminelle Geschichte geraten. „Graue Exporte“ nannte sich das, da hat man deutsche Autos in die weite Welt verfrachtet und da waren natürlich auch gestohlene dabei. Ein Boom-Geschäft. Ich habe dann Tuberkulose bekommen und musste in ein Lungensanatorium. Und dort habe ich die Geschichte aufgeschrieben, die ich als erstes machen wollte. Aber als ich rauskam nach eineinhalb Jahren – ich war Anfang zwanzig – hat keiner gesagt: „Mach es, hier hast du Geld“. Auch weil diese Art von Geschichte eben ausserhalb des Trends des „Jungen Deutschen Films“ lag.

Ich habe das Ganze hier im Hamburger Hafen Einstellung für Einstellung vorbereitet, Grundrisspläne gezeichnet, die Einstellungen in dicken Ordnern, weil ich erzwingen wollte, diesen Film zu machen. Ich hatte jeden Drehort mit Adresse und Strasse und mit einer Liste, wen man anrufen muss, um die Genehmigung zu bekommen. Das war alles da! Ich habe dieses ganze Paket dann eingereicht – und bin dreimal abgelehnt worden. Ich habe den Film nie gedreht. Man hat die Tatsache, dass ich das so aufwendig, so professionell, wie ich meine, vorbereitet habe, eigentlich als einen Verstoss gegen den Zeitgeist empfunden. Das hat man mir dann aus der Jury aus diesen Gremien berichtet: „Der muss ja nicht richtig ticken, das ist ja ein Bürohengst, der so einen Stapel Ordner anschleppt.“ (lacht) Das war so. Das war die Zeit, in der man die Kamera einfach genommen hat. Diese Basis für richtiges Kino war noch nicht da in Deutschland, oder noch nicht wieder. Man wollte endlich den Heimatfilm und das alles abschaffen und die französische Neue Welle ein bisschen nachahmen – dagegen hatte ich gar nichts! Nur, ich wollte irgendwie „richtiges“ Kino machen. Und so musste ich mich dann mühselig zu meinem Kino „durchrobben“. Ich habe dann ein paar kleine Filme gemacht, „Ludwig“, „Zwei“ und „Jimmy Orpheus“, bis ich „Bübchen“ machen konnte. Ich weiss auch nicht wieso, aber da habe ich meine Prämie gekriegt. Was nicht heissen soll, dass ich den Film nicht liebe, es gibt Leute, die sagen, das sei mein bester. Der ist übrigens, was dieses Ambiente anbelangt, sehr autobiographisch.

In allen deinen Filmen gibt es eine Figur, behaupte ich mal, die ist Roland Klick. Bei „Bübchen“, zum Beispiel, ist es der Vater, wunderbar gespielt von Sieghardt Rupp. Der Mann mit der Lederjacke, der in seinem spiessigen Leben gefangen ist, aber eigentlich etwas anderes will. Die Sehnsucht des Rock ’n‘ Rollers.

Es ist ein bisschen die Gefangenheit des Mannes. Der Mann ist ja in irgendeiner Form in eine Falle gelaufen, irgendwann – im Neolithikum. (lacht) Nach dem Jagen musste er anfangen zu ackern. Diese Symptomtradition, dass der Mann zu ackern hat, statt Freiheit zu leben und zu jagen, die setzt sich natürlich bis heute fort. Und ich glaube, dass dieser Mann, dieser sogenannte Unmensch von Mann nichts anderes ist, als die Überkompensation dieses Urdramas, der Gefangenschaft. Es hat mir ja auch gedroht. Die Praxis am Bahnhof war schon fertig, da hätte ich mich nur noch reinsetzen müssen. (lacht) Und dieser Mann dort (Sieghardt Rupp in „Bübchen“) ist eigentlich der „gefangene Mann“. Im Gegensatz zu mir kann er seine Freiheit nur mit der Lederjacke leben. Ich habe ja meinen Freiraum und meine Heldenreise wirklich antreten können durch das Kino. Sie ist mir zwar zunächst mal nicht zugebilligt worden, aber das gehört dazu, dass man etwas tut gegen alle Widerstände. Sonst wäre es ja auch keine Heldenreise mehr, sondern Tourismus.

Alle deine Figuren sind Einzelkämpfer…

Ich glaube, dass dieses Aussenseitertum etwas damit zu tun hat, dass ich von klein auf auf Heldenreise gehen wollte. Das macht man alleine, verstehst du? Man hat einen Freund, vielleicht. Den hatte ich auch immer. In meinem Fall, in Neumünster, war das Jasper Holm. Jasper Holm war ein uriger rothaariger Junge, ein bisschen älter als ich. Ich war der Ideengeber, und er war der beste Freund, um das toll zu finden und durchzuführen. Wir haben zusammen einiges angestellt. Das waren richtige kleine Filme mit Jasper Holm. Aussenseiterfilme.

War Bernd Eichinger, mit dem du „Lieb Vaterland…“ gedreht hast und mit dem du „Christiane F.“ drehen wolltest, auch so ein Jasper Holm?

Ja. Ich habe mit dem Bernd eigentlich so eine richtige Jungenfreundschaft, nenne ich das mal, wir waren natürlich beide keine Jungen mehr, aber wir waren in der Seele diese Vögel, die Abenteuer gesucht haben, auch im Filmemachen. Ich bin heute noch mit Bernd befreundet und kann über ihn auch gar nichts Negatives sagen. Er hat einen grossen Weg gemacht und hat wirklich viel auf die Beine gestellt. Wie vor ihm eigentlich im deutschen Film in so kurzer Zeit kaum einer. Auf der anderen Seite bedauere ich es bis heute, dass er – wie soll ich es sagen – keinen Gegenpol hatte. Ich bin ein Spinner. Ich hab zwar meine Träume auch immer verwirklicht, aber ich bin auf der Seite des Spinnens – und er ist auf der Seite der Macht. Und dadurch, dass er sich schwächere Gegenpole gesucht hat, auch in seinem Laden dort, der ihn sozusagen auf der Seite der Macht bestätigt, sind nie wirklich FILME herausgekommen. Die meisten sind weitgehend über die Promotion entstanden. Genau so wie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Unsere Wege haben sich damals getrennt, weil wir unterschiedlich sind. Aber ich finde, gerade weil wir unterschiedlich sind bis zu einem bestimmten Punkt, sind wir absolut Freunde, und da fängt etwas an, was zur ganz grossen Form hätte führen können, anstatt zum Widerspruch, der unaufhebbar scheint.

Was ging schief bei „Christiane F.“?

Ich habe mit „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ nicht versucht, eine Geschichte zu „ver-“filmen -, sondern ich habe versucht diese Realität zu verstehen, die ja noch bestand zu der Zeit am Bahnhof Zoo. Die besteht ja bis heute letztlich mit Varianten. Da hängen lauter Kinder herum, die mehr und mehr dem Rauschgift verfallen. Das hat ja auch einen gesellschaftlichen Hintergrund. Warum machen die das? Deswegen war für mich „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ nicht das gleiche wie einen Roman zu verfilmen, den Paul Bowles in Nordafrika geschrieben hat und der ein authentisches Werk ist, dem man verpflichtet ist. Für mich war es die Realität des Bahnhof Zoo, dem ich verpflichtet bin.

Also bin ich zum Bahnhof gegangen und habe dort nächtelang mit den Fixern herumgesessen. Und gleichzeitig habe ich eine Aktion gestartet, dass die sich alle melden sollen für die Besetzung. Dann hatten wir plötzlich 2500 Kinder, viele davon wirklich auf Droge. Und ich habe angefangen, aus diesem Fundus heraus die Besetzung zu ziehen – wir haben eine Videokamera gehabt und haben diese ganzen Kinder vor der Kamera diese Drogenrealität spielen lassen. Das kam zum grossen Teil aus dem Buch, zum Teil aber eben auch aus ihrer eigenen Erfahrung. Und aus diesen verschiedenen Ansätzen habe ich eine Welt entstehen lassen, meine „Kinder vom Bahnhof Zoo“. Es waren am Ende 35 aus 2500.

Und dieser Prozess, hat die Mitwelt, die an dem Film beteiligt war, mächtig verunsichert: „Es geht so nicht weiter! Das Produktionsbüro ist schließlich kein Bahnhof Zoo“. Das aber gerade habe ich versucht herzustellen! Und es wäre ein phantastischer Film geworden! Statt dessen ist er zunehmend torpediert worden. Mit dem Argument, er sei nicht mehr werkgetreu, weil irgendwelche Geschichten drin vorkamen, die in dem Buch nicht stehen, die aber die Leute mitgebracht haben. Das aber fand ich werkgetreu. Und nicht die Frage, ob die Farbe von den Möbeln in der Küche von der Mutter stimmt. Es wäre „Kinder vom Bahnhof Zoo“ gewesen, viel authentischer, als das, was entstanden ist, denn das, was entstanden ist, ist, wie ich finde, blutleer und ohne tiefere Wahrheit.

Bernd hätte an der Stelle eben nicht auf die Macht setzen sollen. Natürlich wollte er es sich mit dem „Stern“ nicht verderben, wegen der Promotion. Aber er hätte eine klarere Position beziehen müssen, und er hätte den Freund, den „Jasper Holm“ (lacht) auch geben müssen. Ich meine eben, dass der Bernd, bei allem Mut, den er aufgebracht hat im Rahmen seiner Laufbahn, einen ganz bestimmten Mut nur selten aufgebracht hat. Nämlich: den Mut zum Unbekannten. Plötzlich ist er im Rahmen von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ an die Grenze gestossen, an der er gespürt hat, das kann er nicht mehr kontrollieren, „da kommt jetzt das Unbekannte auf mich zu“. Und an diese Grenze ist er gestossen mit mir. Und ich mit ihm ja auch! Ich weiss aber, dass jenseits dieser Grenze eigentlich das anfängt, was einen Film dann genialisch sein lässt. Das Unbekannte, das man erobert durch das Machen, das man ahnt, das man im Unterbewusstsein trägt und deswegen nicht berechnen kann. Und wenn man dem keinen Raum gibt, dem Unbekannten, das auf einen zukommt, aus dem Unterbewusstsein des Machers, des Schöpfers, dessen, der das komponiert, und derer die daran beteiligt sind, dann entsteht eben immer nur das, was ich „Verfilmungen“ nenne. Das heisst: Das steht auf dem Papier, und das wird jetzt in Zelluloid übersetzt, dafür kriegt man den Nobelpreis für Chemie, und damit hat es sich – Umwandlung von Papier in Zelluloid.

Das heisst, ein Held ist nur ein Held, wenn er bereit ist, ins Unbekannte vorzudringen.

Natürlich!

Also ist Bernd Eichinger kein Held.

Ich finde nicht, dass er ein Held ist. Er ist ein starker Mann, der aber dieses Stück Heldentum, die Macht in den Dienst des Unbekannten zu stellen, nicht konsequent genug wagt. Zur Heldenreise gehört, glaube ich, auch, dass man unabhängig wird von dem Urteil anderer. Es gibt eben Situationen auf diesem Weg ins Unbekannte, in die Einsamkeit, wo man Dinge aus der eigenen Einschätzung der Situation heraus entscheiden muss. Die kann falsch sein. Das Scheitern gehört zu der Erfahrung der Heldenreise. Während in unserer Gesellschaft jeder zu neunzig Prozent eingespannt ist in das Konzept: „Gut ist nur, was die anderen gut finden“. Aber man muss eben auch dorthin gehen, wo man nicht geschützt ist, durch Beifall zum Beispiel – denn Beifall ist ja ein Schutz, der sagt „Du bist einer von uns“ – so dass man auch das Scheitern eines anderen mit Gnade betrachten kann. Das kann man nicht, wenn man sein Leben lang nur auf der Jagd ist nach Beifall.

In „White Star“ sagt Dennis Hopper, alias Kenneth Barlow, über das Scheitern, er sei niemals „knapp bei Kasse“ gewesen, sondern wenn schon „richtig pleite!“

… und selbst wenn er pleite ist – nicht knapp bei Kasse! (lacht)

Das warst letztendlich auch du.

Natürlich. Der Film ist leider nicht so geworden, wie er gedacht war, weil – mir hat eigentlich in meinem Leben immer ein „Jasper Holm“ gefehlt. Ein Mann, der etwas bodenständiger ist als ich und trotzdem die gleichen Träume hat, die ich aber dann etwas weiter noch träumen kann, dafür aber weniger Bodenhaftung habe. Ich bin kein starker Produzent. Aber wenn ich einen starken Produzenten habe, entstehen starke Prozesse. Mir hat natürlich bei „White Star“ dieser starke, bodenhaftende Partner gefehlt. Ich habe es geschafft, den Film zu machen, aber gleichzeitig Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und auch noch Kindesvater zu sein (lacht), das war ein 20-Stunden-Job jeden Tag. Ich bin total in die Knie gegangen. Ein absoluter Todestrip.

Warum hast du nach „Schluckauf“ aufgehört?

Erstmal, sage ich mal, habe ich gar nicht aufgehört in dem Sinne, sondern ich habe einfach erstmal nicht weiter gemacht auf der filmischen Ebene. Und im Moment geht’s für mich nicht darum, einen Film zu machen, sondern aus diesen ganzen Dingen, die ich gemacht habe, die ich falsch gemacht habe, die ich richtig gemacht habe, eine innere Quintessenz herzuleiten, aus der dann wieder ein Projekt entsteht. Das Projekt ist auch schon da, nur es ist noch nicht „Film“, es wird vielleicht auch nie „Film“, vielleicht entsteht es erstmal auf dem Papier… Ich habe aufgehört, mich ans Zelluloid zu klammern.

Das Gespräch führte María Cristina Hervás am 30.06.2003 in Hamburg. Bearbeitung: María Cristina Hervás.

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