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Interview: Alexander Kluge

Revolver: Sie haben einmal gesagt, die Filmindustrie sei die einzige Industrie, die sich keine Forschung leiste, wir bräuchten aber Forschung. Inwiefern kann Film Forschung sein?

Kluge: Wir Menschen haben ja zwei Möglichkeiten zu reagieren in uns. Das heisst, wir sind neugierig, das ist zunächst sachlich gerichtet und wäre dann Forschung. Wenn Sie aber Doktorspiele machen als Kind, dann sind Sie auch Forscher in einer anderen Richtung. Was sagen meine Nerven? Wen liebe ich? Diese beiden Möglichkeiten – facts and fakes – hat jeder Mensch in sich und natürlich auch das Kino. Die technische Erfindung Kino ahmt ja nur nach, wie Erlebnisse, Abbilder in den Menschen – immer über ein Gegenbild, das mehr ist als ein Spiegel – seit Tausenden von Jahren entstanden sind.

Wenn man mit den Augen des Forschers auf den Film blickt, was ist die Kamera dann für ein Instrument?

Sie kann zum Beispiel Zeittotalen herstellen, Zeitraffer oder eine Zeitgrossaufnahme machen, das wäre die Zeitlupe oder die Grossaufnahme, die Zeit steht still. Und diese mechanischen Möglichkeiten lassen sich wieder auf die Dramaturgie übertragen. Also, ich konzentriere mich entweder auf einen Ausschnitt – das entspräche der Grossaufnahme – oder ich mache einen Montagebogen – das wäre der Zeitraffer. Die Montage ist im Grunde eine Seitenform des Zeitraffers.

Könnte man behaupten, der Film habe als Forschung begonnen?

So wurde die Kamera erfunden. Sie haben Edward Muybridge, der ein wissenschaftliches Instrument erfindet, mit dem man feststellen kann, ob ein Pferd tatsächlich immerzu den Boden berührt oder ob es irgendwann einmal auch ein Lufttier ist. Und dieses Bild, dass ein Pferd fliegen könnte, das ist älter – der Pegasus, das Pferd Alexanders, Dietrich von Bern reitet auf einer Hirschkuh in den Himmel – das gibt es ja vorher schon. Und jetzt gibt es ein Gerät, um nachzumessen, ob es dieses Wunder wirklich gibt. Und die Filmpioniere sehen dann mit Erstaunen, wie dieses wertvolle Instrument verwendet wird – schon von Lumière, und dann von den Kaufleuten – um drittklassige Theaterstücke abzufilmen. Und das empfinden sie als eine Zweckentfremdung. Und hier haben Sie jetzt Unterhaltung, Kommerz auf der einen Seite, und Forschung und Mittel der Forschung auf der anderen Seite.

Sie sehen das Verhältnis zwischen Instrument und Wirklichkeit also als eines der Überprüfung, nicht der Schöpfung. Oder könnte es sein, dass das Gerät diese Wirklichkeit erst schafft?

Sehen Sie, es gibt meinetwegen Wasser, das können Sie in der Hand nicht durch die Wüste tragen, da brauchen Sie ein Gefäss – und diese Geräte haben die Funktion eines Gefässes. Etwas, was man schon vorher machte und konnte, hat dazu geführt, dass man dieses Gerät erfunden hat. Man musste nicht deswegen eine neue Dramaturgie erfinden. Und gleichzeitig hat man auf Grund des Gerätes eine Form. Das ist eine Wechselwirkung.

Verstehen Sie sich als Forscher in ihrer filmischen Arbeit?

Also, dass ich neugierig bin, kann ich bestätigen.

Ist der Film für Sie ein Experiment während der Vorführung? Oder ist er es während der Produktion?

Der Film kann im Moment der Aufnahme hochexperimentell sein. Im Kino gibt es dann Überraschungen, würde ich sagen. Die Experimente werden ja auch widerlegt durch den Zuschauer. Wenn Sie in einem Kino Glück haben und unvereinbare Leute zusammenbekommen, haben sie einen interessanten Spiegel, der im Grunde wie eine Gegenkamera funktioniert. Die sind schlauer als wir. Das ist das eine.

Beim Filmemachen selber, da gibt es diese Neugier. Also nehmen Sie einmal an, Sie sehen ein Grasbüschel neben einem Zirkus und sagen sich: „Ein Quadratmeter Boden, da kann man sterben darauf“ und nehmen das also auf. Dann haben Sie durch Zufall gemacht, was Wissenschaftler auch gerne tun: Sie grenzen ein Gebiet ein und lenken die Aufmerksamkeit darauf. Wenn Sie das jetzt in Stalingrad machen, hat das vielleicht sogar einen Sinn.

In der Wissenschaft beginnt man ja in der Regel mit einer Fragestellung. Man beobachtet einen Vorgang, den man kontrolliert, ein Experiment, und irgendwann hat man ein Ergebnis. Das ist ein Weg, auf dem man Fortschritte erzielen kann. Gibt es dafür eine Entsprechung im Film?

Also, für mich wäre das eine langweilige Vorgehensweise. Ich brauche die Möglichkeit der Überraschung, um weiterzumachen. Und dazu passt dieses wissenschaftliche Planen nicht. Wenn Sie mich also fragen, ob ich neugierig bin, sage ich ja. Wenn sie mich dagegen fragen, ob ich wissenschaftlich bin, sage ich nein.

Aber auch der Forscher weiss nicht, was er finden wird. Alles was er weiss, ist, dass er etwas finden möchte. Er ist hungrig. Er sieht sich einer Grenze gegenüber, und diese Grenze hofft er zu überwinden oder zumindest zu verschieben. Das sind natürlich andere Dinge, die man dort herausfindet, als wenn man einen Film macht. Aber ich sehe da eine Verwandtschaft.

Ich finde das richtig, was Sie sagen. Und wenn Sie an die Quelle gehen, wo die moderne Wissenschaft entsteht, dann merken Sie: da ist ein verändertes Selbstbewusstsein, was den wissenschaftlichen Menschen, Galilei, Kepler, vom Menschen vorher unterscheidet. Dieser neue Mensch findet seine Neugier unbezähmbar und ist auch sicher, dass er alles herausfindet. Ein Beispiel: Galilei, der die schönste Uhr unseres Planetensystems gefunden hat, die Jupitermonde. Mit dem Fernrohr. Das war gerade neu aus Holland angekommen, er hat es frisch ausgepackt. Da sieht er diese Vierertruppe Uhrzeiten angeben. Dann untersucht er aber mit der gleichen Vehemenz in Venedig heimlich nachts, ob eine Hostie nach der Wandlung die gleiche physikalische Form hat wie vor der Wandlung. Er fängt an, da hineinzuhacken. Wenn Blut herausgekommen wäre, wäre er dran gewesen. So ist es, auf neutralem Boden in Venedig, gerade genug, um vors Konsistorium geladen zu werden. Das ist übrigens der wirkliche Grund, warum er abschwören musste. Man hat ihn nicht auf diese Sache abschwören lassen – das wäre für die Öffentlichkeitsarbeit der Kirche kontraproduktiv gewesen – sondern er musste schwören, dass die Sonne um die Erde kreist. Weil das ungefährlicher zu sein schien. Das war der Kompromiss.

Wie hätte sich die Wissenschaft verändert, wenn da Blut herausgekommen wäre… (Lachen)

Können Sie es ausschliessen? Das ist ja aktuell. Wenn Sie so umgehen mit Islamisten und sagen: „Papperlapapp, wieso soll der Mohammed das und das gesagt haben?”, dann verletzen Sie etwas, worüber die nicht diskutieren wollen. Es ist ein Omnipotenzgefühl und ein aggressives Selbstbewusstsein, das am Anfang dieser Wissenschaft steht, egal was sie macht. Galilei ist auch poetisch tätig gewesen und hat für die Akademie – gegen Bezahlung – Dantes „Göttliche Komödie“ untersucht, und zwar die Hölle, nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Dort heisst es, in Jerusalem gäbe es einen Trichter, mit neun Stockwerken, der neunte kommt im Erdmittelpunkt an, wo der Teufel bis zur Hüfte im Eis sitzt. Dort ist er als Erzengel eingeschlagen, von der pazifischen Seite her, als er stürzte. Und das hat Galilei nachgerechnet, mit absolut verrückten Ergebnissen. Er hat die poetischen Texte von Vergil und Dante mit den physikalischen Fakten, die ihm bekannt waren, vernetzt, und dieses irrsinnige Gebilde aus Aberglaube – weder Poesie noch Wissenschaft – das hat er verkauft. Ich habe jetzt nur mal mehrere Beispiele vom selben Wissenschaftsgeist genannt, von spekulativer Wissenschaft.

Was wir im Film erforschen, ist ähnlich spekulativ.

Ich könnte Ihnen jetzt alle diese Eigenschaften bei Fritz Lang wiederholen. Wenn man den einen Tag belabert hätte, dann wäre er dafür zu gewinnen gewesen, die Enzyklopädie des Kosmos zu verfilmen. „Warum ist die Milchstrasse nicht verfilmt? Ist doch interessant!” Das wäre auch richtig wissenschaftlich gemeint und gleichzeitig hätte er den ganzen Kitsch, den der Produzent braucht, miteingebaut. Also diese Eigenschaft ist in der Gründerzeit des Films, einer Epoche, die ich ja sehr liebe, mitenthalten.

Wie war das im Deutschland der 60er Jahre? Welche Fragen haben den „Jungen Deutschen Film” verbunden?

Das Gemeinsame der Autorenfilmer – von Ulrich Schamoni, der ganz kommerzielle Ideen hatte, bis meinetwegen Werner Herzog – war, dass sie keine Vorgesetzten duldeten. Und aus dieser gemeinsamen Haltung entstand eigentlich das Selbstbewusstsein, von dem wir eben sprachen. Und nur weil dieses Selbstbewusstsein existierte, ist Schlöndorff nicht zum Fernsehen gegangen, und nur deshalb ist Fassbinder nicht beim Theater geblieben. Es hat sich so etwas wie eine Strömung herausgebildet und war eine ganze Zeit lebendig… Und diese Strömung war anti-institutionell.

Sie konnte keine Schule begründen?

Abteilungsleiter gab es da nicht. Das war etwas, das sich von selbst ergab, daran haben wir nicht nur geglaubt, danach hat sich jeder verhalten. Und da ist ein subjektiver Überschuss enthalten – ohne Zweifel besonders irrtumsbegabt -, der etwas finden kann, was sonst keiner findet. Die Filmakademien dagegen waren von Anfang an obrigkeitlich. Selbst wenn sie eine linke Seite hatten, wie die Berliner DFFB zu einer bestimmten Zeit, waren sie doch vom Senat eingesetzt. Eine Schule ist eine Institution – sie kann nicht anti-institutionell sein. Während wir eine Dramaturgie der Schulpause verfolgten, machten die anderen eine Dramaturgie der Schulstunde. Wir haben offene Produkte hergestellt und hinterher festgestellt, ob das ein Publikum sehen will oder nicht. Das ging vom Ein-Minuten- bis zum Tausend-Minuten-Film. Reitz‘ „Heimat” ist typisch für die Filmideen, wie wir sie hatten. Aber diese freiheitliche Richtung, die nicht gehorchen will, verliert laufend Substanz gegenüber den Institutionen, die ja grosse Dampfer sind. Wir sind ein Floss.

Aber ein Floss doch auch deshalb, weil es alles Einzelkämpfer waren…

Einzelkämpfer, die zusammengearbeitet haben, wenn sie erregt waren. Bei „Deutschland im Herbst”, beim „Kandidaten”, bei „Krieg und Frieden” haben wir ja zusammengearbeitet, eigentlich wie Redakteure an einer Zeitung. Und diese Filme wurden vom Publikum akzeptiert.

Was es aber eben aus verschiedenen Gründen nicht gab, ist so etwas wie eine Traditionsbildung…

Aber das ist nichts, was uns fremd gewesen wäre. Wir haben ja versucht, Fritz Lang nach Ulm zu schleppen, zu unserem Fürsten zu machen, als Leiter der Filmabteilung an der Hochschule für Gestaltung. Da haben nun wieder Leute, die mit Film gar nichts zu tun hatten, die vom Bauhaus kamen, gesagt „Der malt nicht quadratisch genug…” und waren zögerlich, und daraufhin hat Fritz Lang abgewinkt. Ich könnte Ihnen in den zwanziger Jahren eine ganze Menge von Leuten nennen, auf denen ich bis heute aufbaue, und so kann jeder irgendeine andere Vorfahrenkette benennen. Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Sie Verwaltung brauchen, Priester und Cäsaren, um etwas über die Generationen zu ziehen. Dieser Autorenfilm wurde zerrieben zwischen zwei Dingen: der Bilderfeindlichkeit der Protestbewegung, die sagte, Film sei ein Aufzeichnungsprotokoll und solle nichts Selbständiges tun, was zähle sei der Kampf und nicht das Kino – und auf der anderen Seite dem Versuch, sich an das amerikanische Kino anzuschliessen – auf Teufel komm raus. Und durch diese Schlucht sind wir nicht heil durchgekommen.

Die Dinge, die ihr damals gemacht habt, haben sehr viel herausgefunden über die Identität dieses Landes und seiner Menschen – und diese Art von Forschung muss das Kino eben auch betreiben, finde ich. Ich glaube, wir haben heute ein unglaubliches Defizit, uns zu erkennen…

Die Frage ist, ob die Tradition, die ich mir selber suche, die gleiche Stärke entwickeln kann wie die Tradition, die sozusagen organisch ist, vom Vater zum Sohn. Warum hat es diese organische Tradition nicht gegeben? Wir haben mit vielen Leuten Ihrer Generation gesprochen, mit Syberberg, mit Herzog, mit Wenders, und die sind so entfernt wie Murnau oder Eisenstein für mich.

Also, das ist seltsam. In der Musik gibt es Verwandtschaften ja offensichtlich. Wenn Wolfgang Rihm beispielsweise den Schlussgesang aus der „Krönung der Poppea” von Monteverdi zum Subtext für den Schlussgesang in „Die Eroberung von Mexiko“ nimmt – kein Ton ist derselbe und trotzdem merken Sie sofort, die Struktur ist identisch, das ist ein Verkehr über fast 400 Jahre hinweg. Und genauso kann ein Filmemacher von heute mit Griffith oder mit Méliès zusammenarbeiten. Es muss eben nicht Vater und Sohn sein, sondern so wie die Grosseltern manchmal den Enkeln besonders gute Geschichten erzählen, kann das auch Generationen überspringen. Also kein Ödipus-Problem, sondern eine Grimmsche Märchentradition, von den Grossmüttern zu den Enkeln. Und es ist ja doch gar nicht ausgeschlossen, dass wir das jetzt wieder machen.

Wir sind eingesperrt in die deutsche Sprache hier, die ist einfach nicht verbreitet genug für einen Markt. Das könnte alles anders sein mit Hilfe Osteuropas, wo wir sowieso mehrsprachig verkehren müssen. Wenn wir diese Herausforderung annehmen, dann könnten wir eigentlich genauso gut neu durchstarten mit einer Erneuerung des Films. Wir dürfen es nicht versuchen in solchen grossen Multiplex-Kinos, die sind zu teuer. Wir brauchen eine zweite Liga des Kinos, die mit den einfachsten Methoden arbeitet, die meinetwegen in Gastwirtschaften stattfindet – digital geht das doch alles.

Also das heisst, wir stehen eigentlich vor einem Neubeginn. Wenn man so ein Kino heute machen würde, würde dies auf kein Hindernis stossen. Der Direktzugang zum Zuschauer – das ist der eigentliche Kerngedanke – der würde funktionieren. Die Zuschauer sind so satt, das Überangebot von immer Demselben zu haben. So wie es Romane und Sachbücher gibt, so können Sie sagen, wenn es nur Sachbücher gäbe, würden Sie nach Romanen verlangen und wenn es nur Romane gäbe, würden Sie eben eine Sehnsucht nach Sachbüchern entwickeln. Und Spielfilme sind ja beinahe Romane.

In diesem Zusammenhang ist die Wissenschaft für uns Filmer eine Herausforderung. Nicht, weil wir mit den Kameras da grosse Beiträge leisten – die haben inzwischen viel feinere Instrumente zum Registrieren der wirklichen Verhältnisse. Aber die Leute dort, die da forschen, sind so spannend, wie ich keinen Roman spannend finden kann. Was soll ich zum hunderttausendsten Mal Dreiecksbeziehungen beleuchten? Ein paar Fragen davon lassen sich glücklich lösen, aber bei „Jules et Jim” sind die auch schon gelöst, auch glücklich. Und ich könnte da eigentlich eher als Verleiher auftreten anstatt als Autorenfilmer und das mal zusammenfassen, was es da schon gibt. Während was es gar nicht gibt, ist, die Romane zu verfolgen, die uns die Wissenschaft im Moment erzählt.

Da gibt es einen Mann namens Rosenberg, der herausgefunden hat, dass Wimperntierchen Lebewesen sind, die zwei Zellkerne haben, von denen der eine ein Theoretiker ist, der die ganze Vorgeschichte bis 3,8 Mrd. Jahre rückwärts memorieren kann und der andere, der für das Leben sorgt. Und wenn sie geschlechtssüchtig werden, wechseln sie die Funktion, und das ist der Moment, in dem sie rechnen… Dieses „Rechnen” kann man nun in einen Parallelrechner verwandeln, der in einer Woche mehr rechnen kann, als alle Siliziumcomputer, die wir haben, in vierhundert Jahren. Wenn der Ihnen das so erzählt, dann denken Sie für einen Moment, das ist ein Alchimist. Er ist aber keiner, sondern er gehört zu den 14 Leuten, die diesen DNA-Computer entwickeln werden. Ich könnte Ihnen auch erzählen, wie die dunkle Materie beispielsweise mit Hilfe eines sehr grossen Smaragdes erforscht wird, der in dem Berg Gran Sasso steckt – das ist der Berg, auf dem Mussolini gefangen sass. Das heisst, die Wissenschaft sagt, vierhundert Jahre nach ihrer Entstehung um 1600, 70% des Kosmos kennen wir gar nicht.

Aber das ist ja im Film, um jetzt eine grosse Brücke zu schlagen, nicht anders, es gibt unglaublich viel Unerforschtes.

Mindestens könnte der Film hier Enzyklopädisches leisten, indem er die Leute und ihre Beziehungen zueinander abfilmt. Die haben gute Gesichter, und wenn sie so erzählen dürfen, wie sie wirklich sind, wie sie wirklich denken und wie sie untereinander reden, ist es brennend interessant. Das heisst also, der Film muss auch thematisch anderswo grasen dürfen.

In Ihren Fernseharbeiten…

…mache ich das, ja.

Wenn ich Alexander Kluge sage, höre ich ganz oft „Oh, diese schwierigen Sendungen”. Also das ist etwas für die ganz Hartgesottenen?

Das ist nicht wahr. Wir haben 12,5 % Marktanteil bei den 14-49-jährigen, das ist eine hohe Quote, in dem Magazin „10 vor 11“. Das kommt daher, dass diejenigen, die das übrige Programm zu kennen glauben (da es immer dasselbe ist), hängen bleiben, weil ihnen die Tonart fremd ist. Das funktioniert gewissermassen wie eine Zapper-Falle. Natürlich, wir können nicht wissen, ob das, was der Wissenschaftler in der Sendung sagt, verstanden wird, aber ich glaube, es wird als direktes Signal erkannt. Man sieht, wie dieser Mann redet und dass er so reden möchte. Der Zuschauer bemerkt also, dass das kein Lehrer ist. In dem Moment, wo das Material unverarbeitet bleibt, wird es angenommen. Würde ich jetzt anfangen, das zu verarbeiten und zu erklären, würde es nicht funktionieren.

Wo sehen Sie den Unterschied zum Kino in dieser Arbeit? Ich meine, wenn Sie jetzt so beschreiben, wie Ihr Zuschauer zu Ihnen kommt… für eine Kinosituation wäre das ja ein Unglück. Man hofft ja doch, dass sich die Leute gezielt auf eine Sache einlassen wollen.

Das ist wirklich wahr. Das Fernsehen ist eher für Passanten gemacht, sozusagen im Freien, auf der grünen Wiese… Gleichzeitig kommen Sie natürlich in Wohnzimmer hinein, dringen in intime Räume vor, aber Sie wissen nicht in welche. Das heisst, dieses Warmherzige, das mit der Versammlung in einem Kinosaal verbunden ist, in dem es schön dunkel ist, in dem alle eigentlich konzentriert sind, das hat das Fernsehen gar nicht.

Wie reagieren Sie darauf? Ist es so, dass sie sagen, darauf müssen wir vollkommen anders antworten, zum Beispiel in Sachen Einheiten, indem man etwa Minutenfilme macht?

Wenn Sie einen Film machen, dann können Sie ja, so wie Alexander Dowshenko in „Erde”, damit anfangen, die Landwirtschaft im allgemeinen und den Bauern im besonderen zu behandeln, bevor Sie irgendwann mit Ihrer Handlung anfangen. Je länger Sie eine Empathie aufbauen, je epischer ein Film ist, desto qualifizierter ist er. Das können Sie sich im Fernsehen auch nicht eine Minute leisten, sie müssen sofort losprotzen und ihren Grundton angeben, also keine Gelegenheit geben, dass der Zuschauer Sie absticht, abschaltet. Wenn Sie diese Geste gemacht haben, wie so ein Hund, der sich ergibt, dann können Sie anfangen. Das ist die Bedingung. Das gibt es im Kino nicht. Im Kino, das sind eigentlich vertrauliche Dinge. Im Kino ist eine erotische Beziehung zwischen Leinwand und Zuschauer möglich.

Das ist wieder eine Frage des Selbstbewusstseins, wenn man so will. Das Fernsehen kann sich nicht sicher sein, gesehen zu werden. Aber genau diese Unsicherheit findet sich auch im Kino immer öfter. Es gibt mehr und mehr Filme, die in jeder Szene eigentlich sagen: „Hallo! Jetzt schauen!”

Das ist ein Misserfolgsrezept seit 1900. Sie können aber sagen, dass Filme nicht ankommen, wenn sie nichts wagen, denn das bemerkt der Zuschauer. Das ist die Bedingung der Hingabebereitschaft. Luhmann hat das so schön gesagt: „Die Liebe ist das einzige Verhältnis, bei der die Tatsache, dass ich etwas von dem anderen will, Bedingung dafür ist, dass er etwas von mir will.” Diese Wechselwirkung ist so schön und da ist das einzige Kriterium Echtheit. Ist es authentisch oder nicht? Ist es ernst gemeint? Das kann man messen, das kann ein Kind messen, ein Erwachsener, ein Weiser und ein Narr ganz vorne weg.

Aber wenn Sie diesen Blick auf Kino haben, wie kam es dann dazu, dass Sie aufgehört haben, Kino zu machen?

Das ist einfach. Es ist der gleiche Grund, warum Edgar Reitz „Heimat“ im Fernsehen macht. Warum Herzog eine Oper inszeniert. Wir sind emigriert, wenn Sie so wollen. Die Branche braucht nicht, was wir können.

Wie wichtig ist der Zuschauer in dem Zusammenhang? Sie sprechen ja schon vom Wirken-Wollen.

Ja, der Zuschauer ist der König, er ist der Souverän, an dem lernen wir. Die meisten Erfindungen kommen eigentlich vom Zuschauer. Nur die Interpretation dessen, was Zuschauer wollen oder hinnehmen oder brauchen, die kann sehr verschiedenartig ausfallen. Also zum Beispiel diese resignative Produzentenansicht, Filme mit Schnee gehen nicht, weil es drei Misserfolge mit Schnee gab – und dann gibt es plötzlich ein Märchen aus Grönland und das läuft. Dann heisst es wieder, man müsse mehr Filme mit Schnee machen. Das ist eigentlich ein Mangel an Selbstbewusstsein, den man dem Zuschauer nicht unbedingt zuschreiben muss. Der bringt eigentlich immer wieder grosse Vorräte an Selbstvertrauen in seine Medien hinein. Und das Internet ist hier, was Vernetzungsmöglichkeiten betrifft, eine enorme Revolution. Das ist vergleichbar mit den Webern in der Frühzeit des Kapitalismus. Jeder konnte damals, erstens, ausgebeutet werden und, zweitens, selbst produzieren. Und das ging völlig seitlich von den Zünften. Die Filmakademien, das wären so die Handwerker von Nürnberg und seitlich davon sind die Weber und die bringen diese Schubkraft hinein. Und das ist heute der Zuschauer, bewaffnet mit dem Internet.

Die Autorentheorie der Franzosen begegnet dem Hollywoodfilm ja mit so einer Art kriminalistischer Lesart: Wer ist Schmuggler im kommerziellen Film? Und man stellt dann fest, Hawks und Walsh und Hitchcock arbeiten in diesen kommerziellen Maschinen, die an der Oberfläche den anderen Unterhaltungsfilmen ähneln, aber sie bringen Dinge unter, die Widerhaken haben. Sie sind Schmuggler. In diesem Sinne könnte man vielleicht hoffen, auch im Fernsehen subversiv zu sein… nur in grösserer Arbeitsteiligkeit. Der Widerhaken würde also sozusagen seinen eigenen Fabrikanten bekommen.

Aber nehmen Sie mal Howard Hawks, „The Big Sky”, das wäre ja so etwas, wovon ich nach wie vor mich leiten lasse, das ist mein Entzücken. Da können Sie nichts weglassen; Sie können den Film im Fernsehen noch nicht einmal sichtbar machen. Sie können aber mit anderen Mitteln jedes Element aus „The Big Sky”, das Sie entzückt hat, ins fremde Medium übersetzen. Also ich habe gestern gerade eine Sendung geschnitten über eine Oper von Heiner Goebbels, „Landschaft mit entfernten Verwandten”. Das heisst so in Anlehnung an ein Bild von Nicolas Poussin, „Landschaft mit von einer Schlange getötetem Mann”, einem Alten Meister aus den Niederlanden. Und in dieser Oper gibt es eine Westernpassage von umwerfender Schönheit. Bei Giordano Bruno heisst es: „Wie sind die Proportionen der Welt? Alles steigert sich.” Das ist das Selbstbewusstsein der frühen Bürger und das gibt es noch einmal im Wilden Westen. Und genau das findet sich auch bei Hawks in „The Big Sky”. Und hier sind jetzt plötzlich Verwandtschaften, und diese Vernetzung, die können Sie im Fernsehen sogar besser zeigen. Im Kino würde das als „untypisch” abgelehnt.

Mein Gefühl ist, dass sich Ihre von Zentrifugalkräften bewegten Filme gegen diesen festen 90-Minuten-Rahmen, den wir im Kino ja immer noch haben, gesträubt haben. Fast könnte man denken, dass sie sich im Fernsehen besser entfalten können.

Sagen wir mal so: Gerade im Zeitmass kann man sich dort überhaupt nicht entfalten, Sie haben meinetwegen bei „10 vor 11” 24 Minuten, und wir haben nicht ein einziges Mal in den 15 Jahren dagegen verstossen. Das Fernsehen ist wie der Zugverkehr auf Pünktlichkeit angewiesen, da können Sie nicht ausufern zeitlich. Sie müssen es mit Intensität versuchen. Sie müssen da meinetwegen in eine Techno-Sendung, in der Sie einen festen Taktschlag von der ersten Minute bis zur 24. Minute haben, eine Arie aus Russland setzen, ein Volkslied, sozusagen wie ein Insekt, das in einem Bernstein enthalten ist. Das enthält „versiegelte Zeit“, der Zuschauer findet sofort heraus, dass er gemeint ist. Das ist ein Briefchen an ihn und auf diese Weise können Sie sich im Fernsehen ausdrücken, aber immer nur immanent.

Wenn Sie Gleichgewichte halten wollen und Navigation betreiben wollen im Fernsehen, müssen Sie eine ganze Menge mehr Regeln beachten als im Kino. Sie können ganz intensive Ausdrücke schaffen. Sie können Menschen, die Sie nicht kennen, auf Zeit verzaubern. Und wenn Sie das ab und zu tun, dann entsteht ein Vertrauen in die Sendung, und jemand sieht sich das an – es ist durchaus ein Vertrauensecho da. Die das gar nicht mögen, die Heiden sozusagen, die sehen gar nicht rein.

Woher wissen Sie das?

Also es gibt über die GFK sehr differenzierte Ziffern, und es gibt qualitativ sehr hochwertige Zuschaueruntersuchungen. Der Fernsehzuschauer wird extensiv beobachtet.

Capra hat bei den Previews seiner Filme ein Tonband mitlaufen lassen und das dann an seinem Schneidetisch angelegt, um zu sehen, wann gelacht wird. In der Hoffnung, die Intelligenz des Zuschauers, die unbestreitbar ist, für sich verwerten können. Kann man das mit Quoten machen?

Nein, aber sie können die Zuschauer sehr fein unterscheiden.

Diese Zahlen werden ja zu Zangen eines dramaturgischen Konformitätsdrucks in den Händen der Sender. Der Forscher hat aber doch andere Ideale als Zustimmung.

Ja, ein Forscher, der arbeitet anders, der macht nicht dauernd Behauptungen, verliebt sich nicht in irgendwelche Ausgänge oder erzwingt ein Happy-End, sondern er geht rückwärts. Etwas ist passiert. Wie in der Geschichte von Thornton Wilder, „ Die Brücke von San Luis Rey”. In Peru sind Menschen von einer Brücke in die Tiefe gestürzt. Gab es einen Grund oder nicht? Und jetzt forschen Sie in der Vergangenheit. Wenn etwas gestorben ist, um das es mir leid tut, interessiert mich der Punkt, wo man es hätte vermeiden können. Also diese Dramaturgie geht nach rückwärts und sucht jetzt eine Quelle, die ich hätte ändern müssen. Das ist eine forscherische Intelligenz, und wenn ich auf diese Weise forsche, wie ein unglückliches Geschehen anders hätte ausgehen können, dann würde ich sogar auf die Bedingungen stossen, nach denen Happy-Ends möglich sind. Sie merken, Sie drehen den Handlungsstrang einfach nur um, dazu brauchen Sie allerdings epische, kommentierende Funktionen, und die dürfen nicht erstarren wie bei Brecht. Die müssen genauso erzählen können wie vorher. Aber so erzählen Menschen wirklich. Einer kommt heim und dann erzählt er, wie er heimkam. Odysseus. Das Interesse wird immer nach rückwärts gerichtet, mit dem Ziel, einen Sprung nach vorne zu machen.

Aber in der Normaldramaturgie steckt ja der Trost, dass alles letztlich im Mythos aufgeht, dass letztlich alles geborgen ist.

Das ist völlig richtig. Sie könnten das kürzen, das würde auch in einem Ammenvers zum Einschlafen von Kindern als Trost enthalten sein. „Regen, Regen geh nach Deutschland!”

Das ist genau das, was Kino heute eigentlich die meiste Zeit macht.

Ich teile das ja, und Sie merken, man kann eigentlich nur im Chor, also zu mehreren, über Kino reden. Es ist ganz falsch, wenn einer nur das, was er gerade macht, für richtig hält.

Sie haben einmal gesagt: Realistische Methode ist Protest. Ich frage mich, wie Sie zu soviel Protest kommen?

Protest ist ja ein sehr hochgezüchtetes Wort. Aber wenn Sie ein Kind nehmen von drei Jahren, das protestiert ganz anders als ein Kind von sechs Jahren. Und der 60-Jährige hat die ganzen Obertöne seines früheren Ichs immer noch in sich und dieses Konzert, das nennen wir Eigensinn, Eigenstimmung, das wird sich im Ernstfall nicht überreden lassen, etwas zu tun, was es partout nicht will. Und wenn sich die verschiedenen Stimmen einig sind und Sie keine pazifizieren können, dann wird der Mensch protestieren. Aber das tut er auf verschiedene Weise. Wenn er ganz besonders still dasitzt und gar nichts tut, dann mag der Protest am höchsten sein.

Wie in „Bartleby“ von Herman Melville.

Wie Bartleby, der sagt: „I’d rather not to”.

Mir geht es oft so, wenn ich Sachen von Ihnen lese, dass so viele Ideen an mir zerren, dass ich innehalten muss. Ich muss das kleiner portionieren als einen Roman etwa, der voller Gleitmittel steckt.

Dann ist das ein Fehler, durch Hysterie von meiner Seite.

Ich glaube nicht, dass es ein Fehler ist, ich glaube sogar, dass es Programm ist. Wie schaffen Sie es, dieses diverse Material zu organisieren?

Das ist kein diverses Material. Alle Materialien haben eine Gravitation von zwei Seiten. Die eine ist einfach die Tatsache, dass ich mich dafür interessiere, die zweite ist, das alles, was mir gegenübersteht, natürlich eine Eigen-Gravitation hat. Und so setzt sich das auseinander, das mache ich ja gar nicht. Sie müssen es mal an einem konkreten Beispiel festmachen.

Der Schriftsteller, der eine Story schreibt, der hat ja etwas, was ihn führt – also er ist dankbar, dass da eine Story ist, die ihn an die Hand nimmt und im besten Falle geht das dem Leser auch so. In der „Chronik der Gefühle” gibt es Geschichten, deren Zusammenhang mir erst nach und nach, manchmal nach Monaten, klar geworden ist. Also beim Lesen spüre ich, dass der Autor den Zusammenhang kennt, aber für mich ist er zunächst ein Geheimnis. Wie organisieren Sie so etwas?

Sie haben meinetwegen einen Satz. Ich nehme mal irgendwas: „Gemein ist, wer gemein zu sprechen wagt über Russlands Leben.” Das ist ein Satz, den habe ich gelesen, der hat mich berührt. Jetzt habe ich etwas Zweites. In den Tagen nach der Havarie von Tschernobyl hat mich sehr beschäftigt, dass ich mit meinen beiden Kindern – eigentlich so wie bei der Flucht nach Ägypten – den Impuls hatte, nach Portugal zu gehen, um sie in Sicherheit zu bringen. Das hat sich hinterher anders erwiesen, oder wir haben uns daran gewöhnt. Diese zwei Gravitationen, wenn Sie so wollen, die habe ich ja beide erlebt. Jetzt schreibe ich ein Kapitel, das beginnt so: „Andropow lässt sich von Akademiemitglied Velitzky Friedrich Engels’ Dialektik der Natur erklären”. Da lässt sich also der Mann, der Gorbatschow angeleitet hat, am Ende seines Lebens von einem Wissenschaftler erklären, was eigentlich die Voraussetzungen seines Tuns sind. Sie merken, was mich interessiert daran: Er hat etwas Richtiges getan, was hinterher zu Glasnost führt, aber gar nicht gewusst, warum er das tut und später bekommt er die Erklärung dafür. Andropow stellt immer wieder eine Frage: Wenn in der Havarie in Tschernobyl Elementarteilchen freigesetzt werden, die eine Halbwertszeit von 300 000 Jahren haben und das Gemeinwesen, das das Ganze angerichtet hat und überwachen will, eine Halbwertszeit von zweieinhalb Jahren (danach ist die UdSSR am Ende), dann ist das ein Missverhältnis von Gemeinwesen und Naturkräften. Und von diesem einfachen Gegensatz – den verlasse ich über das ganze Kapitel, über das Buch hinweg nicht – erzähle ich über zweihundert Seiten eine Geschichte nach der anderen. Und so geht eigentlich eine Bohrung nach der anderen, als ob Sie Gold suchen. Wo eine starke Ader ist, graben Sie weiter.

Aber wie schreibt man so was?

Gar nicht, es schreibt sich. Das heisst, Sie müssen ruhig sein, innerlich ruhig. Sie müssen an dem einmal gefassten Interesse für dieses Kapitel blindlings festhalten. Wenn Sie den Ort dauernd wechseln nach ihrem Geschmack, dann machen Sie einen Fehler. Sie müssen das tun, was eigentlich jede Fledermaus tut, nämlich sich im Verhältnis zu einer Wand, die Ihnen die Echos zurückgibt, verhalten, und dabei zwei Ohren benutzen, das eine misst, was Ihre innere Stimme sagt und das andere sagt, was der Gegenstand, den Sie beschreiben, sagt.

In Ihrer filmischen Arbeit hat ja auch der Zufall, der sich einmischt, eine grosse Rolle gespielt. Wie verhält sich das bei so einem Text?

Ebenso. Es ist so, wie wenn Sie Eisenspäne auf eine Fläche streuen und einen Magneten darüber führen. Die Späne strukturieren sich, aber nicht, weil sie es so wollen, sondern weil der Erdmagnetismus so ist.

Also das heisst, die Absichten verbieten Sie sich oder Sie haben sie einfach nicht?

Ich würde sie niedriger stufen. Und ich habe Vertrauen, dass es mir schon einfallen wird.

Ich frage mich oft, wie stark man einen Film beherrschen können soll. Also jemand wie Hitchcock, der hat das ja versucht.

Ich verehre ihn als Meister, finde aber, das ist nur für Raubtiere geeignet. „Ratiocination” heisst bei Poe die Urform des Kriminalstoffs. Ratiocination, wie kann die Vernunft, die Intelligenz eindringen in einen unbekannten Sachverhalt? Und das ist nicht dasselbe wie Suspense, das Auswühlen eigentlich unerträglicher Verhältnisse, wie sie mit einem Mord verbunden sind. Ich mag Mord nicht.

Würden Sie sagen, er ist zynisch, weil er mit unseren Instinkten rechnet?

Ich würde gar nicht so furchtbar viel bewerten. Es gibt keinen zweiten so begabten Filmemacher, und deswegen möchte ich ihm nicht auch noch Vorschriften machen, wie er sich moralisch verhalten soll. Ich finde es ein bisschen monströs, dass man sich derart für unglückliche Ausgänge und nicht für die Abrüstung von Mord interessiert.

Ich habe ja das Gefühl, seine Filme behandeln alles andere als Kriminalstücke. Es ist alles in der Form.

Das ist wahr. „Vertigo”, das ist einer der grössten Mythen, da stimme ich Ihnen völlig zu. Ich möchte aber die ganze Zeit nicht, dass Menschen sterben. Und das Übelnehmerische darin, dass die Strafe folgt, das ist mir nicht geläufig. Also, so ist die Evolution nicht gebaut, das setzt einen lieben Gott voraus. Ich bin da eher auf der Seite des Teufels, der Auswege weiss, der viel sachlicher bleibt.

Sie gelten ja als Intellektueller im Filmemachen, der weiss, was er tut.

Ich bin kein Intellektueller. Filmemachen ist eigentlich von Haus aus – wie die Wissenschaft – naiv. Sie sind entweder wirklich neugierig, und dann sind Sie schon als Kind neugierig gewesen – oder sie sind es nicht. Wenn Sie die Strömung des Ganges vom Himalaja bis zum Delta studieren, das ist doch nichts anderes, als wenn Sie im Wald pinkeln und die Strömung verfolgen.

Es hat also alles einen sinnlichen Ursprung?

Ja. Wenn es mich nicht interessiert, dann kann es so richtig sein wie es will, ich werde darüber keinen Film versuchen.

Das Gespräch führten Christoph Hochhäusler und Sebastian Sorg am 30.06.2003 in München. Transskript: Nicolai Albrecht, Sebastian Sorg. Bearbeitung: Christoph Hochhäusler, Alexander Kluge, Jens Börner.

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