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Wilde Erdbeeren: Jens Börner

Der Anfang von „Millennium Mambo“ (Hou Hsiao-hsien, Taiwan, 2001). Ein zirpendes Geräusch. Dann bläuliche Neoröhren an der Decke. Die Kamera schwebt in leichter Zeitlupe in eine Art Passage hinein. Vor uns eine junge Frau Anfang zwanzig. Sie sieht sich nach uns um, als wolle sie sich vergewissern, dass wir noch da sind. Elektromusik setzt ein. Durch die Säulen links sieht man die rötlichen Rücklichter der vorbeifahrenden Autos auf der Strasse daneben. Gemeinsam schweben wir in den Gang hinein, ihre langen Haare wie Wellen. Im Off erzählt sie von ihrem Freund, den sie verlassen will und doch nicht verlassen kann. Aber das alles, sagt sie, liegt schon weit zurück, 2001, die Welt begrüsste das neue Jahrtausend. Ich sass wie gebannt, und das Chinesisch klang wie die sanfte Beschwörung von Heute als einer vergangenen Zeit. Es war das durchdringende Gefühl, der eigenen Jugend dabei zuzusehen, wie sie zu Ende geht. Überhaupt kenne ich kaum eine andere Einstellung, bei der sich derart dieses Gefühl atemloser Melancholie einstellt, das Gefühl, gerade ganz da, ganz im Jetzt zu sein und sich gleichzeitig wie auf einem nostalgischen Foto zu betrachten, wissend, dass man das alles nicht festhalten kann.

„Yi Yi“ von Edward Yang (Taiwan, 2000). Für mich einer der besten Filme der letzten Jahre. Der Film, der mich wieder daran erinnert hat, warum ich einmal Filme machen wollte. Einer der seltenen Filme, bei denen man sich intelligenter fühlt, während man sie sieht, lebendiger, verletzlicher. Eine Szene nur, stellvertretend für so viele, die man erzählen könnte: Eine Frau sitzt weinend an einem Bett. Der Arzt hat empfohlen, dass die Familie der Grossmutter, die im Koma liegt, etwas erzählt, um sie zu stimulieren. Die Frau hat seit Tagen der Grossmutter auf dem Bettrand sitzend erzählt, was sie gemacht hat, morgens, nachmittags und abends, und jetzt merkt sie, dass es immer dasselbe ist, dass es eigentlich nichts ist. „Ich habe Mutter nichts zu sagen.“, weint sie. „Ich kann meinen Tag in einer Minute zusammenfassen. Wie kann das so wenig sein?“ Ihr Mann hört schweigend zu, und die Kamera sieht minutenlang nur der Frau zu, die hilflos weint und nach Worten sucht. Man möchte sie in den Arm nehmen und trösten, aber ändern würde das auch nichts. Ihr Mann schlägt vor, der Grossmutter in Zukunft aus der Zeitung vorzulesen. Die Kamera blickt aus dem Fenster auf die Strasse. Autos fahren unten durch die Nacht, und man hört die Nachbarn streiten. Dann ist die Kamera aussen, und der Mann lässt die Jalousie herunter. Die Lichter der Stadt spiegeln sich im Fenster. Der Nachbar schreit seine Frau an: „Du siehst so bescheuert aus!“ Man hört die vorbeifahrenden Autos und immer noch das hilflose Weinen der Frau, der ihr Leben plötzlich so unrettbar leer vorkommt, dass sie noch nicht einmal davon erzählen kann.

Am Ende des ersten Kapitels von „Caro Diario“/„Liebes Tagebuch“ von Nanni Moretti (Italien, 1994) gibt es diese lange Fahrt entlang des Strandes von Ostia, wo Pasolini ermordet wurde. Einfach nur eine Fahrt. Keine Handlung, kein erklärender Off-Text. Statt dessen Musik aus dem Köln Concert von Keith Jarrett. Die Kamera schaut einfach nur: Moretti auf der Vespa, Badetouristen, anonyme Strände, die Strasse in der Sonne, Müll, Autos. Vieles sieht nach Baustelle aus, unfertig. Und man schaut und denkt, hier ist also Pasolini ermordet worden, und die vorbeiziehenden Orte fügen diesem Gedanken nichts hinzu. Stumme Fabrikmauern. Irgendwann rechts ein Zaun, dahinter hohes Schilf. Moretti bremst, steigt ab. Hinter dem Zaun in hohem, vertrocknetem Gras ein Fussballtor und ein undefinierbares weissgekalktes Etwas aus Stein oder Beton neben einem weiteren Maschenzaun, der in sich zusammengefallen ist. Dann eine Einstellung von hinten auf das Etwas. Man sieht, wie verrostete Metalldrähte aus dem verwitterten Stahlbeton ragen, der nur zur Strasse hin noch weiss ist. Hier muss es gewesen sein. Das Etwas ist wohl ein Gedenkstein für Pier Paolo Pasolini. Ich kriege jedes Mal eine Gänsehaut am Ende dieser Fahrt, ich weiss eigentlich gar nicht warum. Vielleicht weil sie so beiläufig von vergehender Zeit erzählt. Weil sie nicht theoretisiert und trotzdem fast eine Abhandlung über das Kino ist, das sich immer an den Oberflächen festbeisst, um darin etwas zu entdecken von der vergehenden Zeit. Und ich denke an Anna Magnani, die grosse Anna Magnani, wie sie am Ende von „Mamma Roma“ die Strasse entlangläuft. „Mamma Roma“ fand ich immer einen tollen Titel für einen tollen Film. Und Pasolini hätte ich einfach gerne einmal getroffen. Vielleicht bin ich deswegen so melancholisch am Ende dieser Fahrt.

Jens Börner

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