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Georg Seesslen: Filmkritik

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Der Satz lastet schwer auf uns, dass eine „Filmkritik von Rang“ nur möglich sei, wenn sie zugleich auch Gesellschaftskritik ist. Man hat ihn wahlweise variiert, ignoriert, exekutiert oder zu erfüllen versucht, und es blieb, so oder so, ein gewaltiger Rest an Unbehagen. Denn ist es schon schwer, Haltung und Methode gegenüber dem bewegten und bewegenden audiovisuellen Geschehen zu entwickeln, scheint „Gesellschaft“ gar ein komplexes System, das heisst auch eines, das Erklärungen, Widerstand und Kritik zu verarbeiten versteht, ohne sich deswegen als Struktur vollkommen zu erschliessen. Es ist, mit anderen Worten, seiner Deutung immer überlegen. Wie soll man „kritisieren“, was nicht einmal zur Hälfte je „Diskurs“ werden kann? Daher ist Gesellschaftskritik, von dem leicht vernutzten Begriff einmal ganz abgesehen, nicht bloss bei den Wächtern und Herrschern verdächtig. Man denkt an ideologische Besserwisserei, an Feindbilder aus dem Schatzkästlein des Verschwörungstheoretikers, oder an die moralische Geste natürlich geborener Mittelstandspädagogen. Gesellschaftskritik, da gibt es wahrlich genug Beispiele in der Geschichte unseres Metiers, ist auch ein beliebtes Mittel, schlecht zu sehen. Schlecht Sehen ist für die Filmkritik so verheerend wie schlecht Malen für die bildende Kunst, da hilft keine gute Absicht. Vielleicht also gehört der Satz zu einer anderen Zeit mit anderen Methoden und anderen Begriffen. Natürlich ist es mal wieder nicht so leicht.

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Das fängt schon einmal damit an, dass es Filmkritik überhaupt nicht gibt. Niemand kann sagen, er sei Filmkritiker, so wie jemand sagt, sie oder er sei Heizungsmonteur oder Quantenphysiker. Es gibt drei Felder: Filme, die auf irgendeine Weise und mehr oder weniger öffentlich sichtbar werden. Medien, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, ein Publikum dazu beratend oder reflektierend zu bedienen. Und es gibt Absichten, Methoden, Stilistiken, mit denen verschiedene Menschen diese Arbeit erledigen, Angestellte, Selbstständige und etliches zwischendrin. Leute, die Filmkritik nebenher betreiben, solche, die sie als Ausbildungs- und Nachweis- Medium für eine Karriere im „Kulturmanagement“ benutzen und schliesslich einige, die ein Leben lang daran klebenbleiben. Die drei Felder sind auf unbegrenzt unterschiedliche Art miteinander zu verbinden, je nach Marktlage.

Aus diesen drei Feldern des merkwürdigen Un-Berufes also entsteht eine politische Ökonomie der Filmkritik. Sie ist, freundlich gesprochen, skandalös. Und zwar nicht nur, weil sie Abhängigkeiten und Beziehungen schafft, eine Bestimmung dessen, was möglich ist und was nicht, da haben es andere Berufe auch nicht besser, sondern vor allem, weil sie sich selbst nicht reflektieren kann. Den Stuhl, auf dem man sitzt, kann man nur kritisieren, solange man einen anderen Stuhl in Reserve hat. Und glauben Sie nicht an eine Solidarität der Sitzenden gegenüber jenen, die dieses System stehen lässt.

Interessen, die in den „Text“ der Filmkritik eingehen, kommen wiederum aus drei Feldern. Von der Seite der Anbieter (deren Macht zu einem „embedded journalism“ wird an anderer Stelle in diesem Heft beschrieben), von der Seite der Medien der Filmkritik (die ihre eigene politische Ökonomie mitbringen), dazu gehören Printmedien, elektronische und digitale Medien (offenbar wird die Situation der Filmkritik um so desolater, je mehr ihr Medium technologisch fortgeschritten ist) und, nicht zu unterschätzen, von der Kundschaft, in der, wie anderswo auch, der Kampf zwischen Mainstream und Dissidenz tobt. Diesen drei Feldern setzt das Subjekt der Filmkritik drei Impulse gegenüber: Erstens Überleben. Zweitens Ruhm, Ehre und Geld, immerhin in dem bescheidenen Mass, welches das Metier bereithält. Und Drittens: Hey, wir haben auch nicht weniger moralischen Ehrgeiz als andere Leute, oder?

Der Weg von der Filmkritik zur Gesellschaftskritik müsste also mitten durch die eigene politische Ökonomie führen. Weil dies selbst für die Mutigsten unter uns eine begrenzte Option ist, reagiert man wie jedes soziale Subsystem: Man verlässt sich auf individuelle Netzwerke, man nutzt Nischen und Beziehungen, und schliesslich entsteht so etwas wie ein eigener Code, ein Jargon, gewiss, der kleine Wonnen der Eingeweihtheit bedient, aber auch eine Geheimsprache. Das hat Tradition: In der grossen „bürgerlichen Zeitung“ links vom politischen Teil, und die Filmkritik darf, wenn sie’s nicht übertreibt, noch ein bisschen linkser sein. (Das kommt daher, dass man instinktiv alles, was mit dem Film, sofern er feuilletontauglich ist, zusammenhängt, einer bestimmten Generation mit einem bestimmten politischen Milieu zuordnet.) In der Praxis ist das lustig, bunt und spannend. Auf jeden Fall: symptomatisch. Aber es enthält ein strukturelles Element von Groteske. Das System Filmkritik kann sich selber nicht politisch aufklären. Wie sollte es dann zu einem Instrument der gesellschaftlichen Aufklärung werden?

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In seinem Code natürlich. Die „Filmkritik von Rang“ enthält als ästhetische Projektion, was sie als politische Praxis nicht enthalten kann. Sie produziert die Utopie eines Diskurses, der freier ist als die Wirklichkeit. Manchmal jedenfalls.

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Filmkritik, wie gesagt, gibt es nicht. Es gibt Konsumentenberatung, es gibt Spezialistenwissen, es gibt das Einschreiben des Filmischen in bestimmte kulturelle Milieus, es gibt den Film-Journalismus in allen Farben, yellow, black & red, es gibt Filmkritik im Tendenzbetrieb, eine Filmkritik der Leidenschaft und eine der Wissenschaft, eine des Handwerks und eine der Philosophie, Interpretationshilfe und Identitätsstiftung, und es gibt die nomadischen Texte, die sich gerne durch die Diskurse bewegen, ohne sich von dem einen oder anderen einfangen zu lassen. Also: jene Filmkritik des Feuilletons und der Fachzeitschriften, deren raison d’être eben das ist, woran die Industrie nicht das geringste Interesse hat, nämlich die Herstellung des „grösseren Zusammenhangs“. Im Zweifelsfall relativiert so etwas den Genuss, und schon damit beginnt der Kracauer-Satz zu wirken, gleichgültig, ob man sich ihm verpflichtet fühlt oder nicht: In jeder Art von grösserem Zusammenhang begegnen sich wieder die Bilder und die Gesellschaften, die sie hervorgebracht haben.

Filmkritik ist für das Feuilleton interessant, weil sie eine Disziplin ist, die nicht wie die benachbarten, die Kunstkritik, die Theaterkritik oder die Tanzkritik, in der Gefahr von „Fachidiotie“ steht (das Fach ist unbestimmt, die Idiotie nicht nachweisbar): Es ist eine „Königsdisziplin“, wie der Zehnkampf in der Leichtathletik, man muss von vielem was verstehen. Soziologisch gesprochen ist der Filmkritiker vermutlich die letzte Realisation eines „Bildungsbürgers“, man setzt aber mindestens ebenso standhaft ein Bein dort ein, wo es „Pop“ raunt. Und damit setzt das Metier die Dialektik seines Gegenstandes, nur Industrie in der Kunst, und Kunst in der Industrie sein zu können, fort: Bürgerliche Bildung im Pop-Diskurs, und Pop-Diskurs in der bürgerlichen Bildung.

So entwickelt sich zur politischen Ökonomie, die ihre Grenzen nicht nur dem Diskurs, sondern vor allem ihrem Subjekt setzt, eine Metaphysik. Die „Aufgabe“ der Filmkritik ist eine Form von Ausgleich und Versöhnung widersprüchlicher Konzepte der Bildproduktion. Dass er irgendwie alles versteht, vom Exploitation-Trash über das Mainstream-Feelgood bis hin zum solitären Kunstwerk, das eben macht den Filmkritiker so nützlich. Noch dort, wo sein Text lärmt, dient er der Beruhigung. Er ist Teil der Herstellung eines Konsenses, in dem man glauben darf, man habe „all das“ mehr oder weniger unter Kontrolle. Und übrigens wird er durch seine prekäre Lage in seiner politischen Ökonomie genau zur Herstellung dieser Legende gezwungen; in der Form des festangestellten Autors oder des Redakteurs sorgt er für einen konstanten Text-Fluss durch widersprüchliche Segmente der audiovisuellen Technologie, in der Form des freien Kritikers sorgt er andererseits dafür, dass die unterschiedlichsten Medien mit den gleichen oder doch verwandten Film-Diskursen versorgt werden, die sich mehr oder weniger nahtlos in die Sphären „Wissenschaft“ und „Ausbildung“ fortsetzen. Die politische Ökonomie erzeugt eine ideologische Entropie. Ein semiotisches Rauschen über dem Bilderfluss.

Dazu ist derzeit keine Alternative in Sicht. Denn natürlich kann man immer wieder Gegen-Medien ins Leben rufen, neue Zeitschriften, neue Portale, neue Foren der Debatte, aber, wie es so geht, solche Selbstausbeutungsprojekte nehmen zwar von den Autoren einen Teil der moralischen Last (Endlich kann ich schreiben, was ich wirklich will!), können aber natürlich nicht den ökonomischen Druck von ihnen nehmen: Der „Filmkritiker von Rang“ produziert heute (und entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise): Scheisse für Geld und Gold für’n (ökonomischen) Arsch. Jedes Kritiker-Leben wird zum strategischen Spiel ums ökonomische und moralische Überleben (von den paar grossen Namen, die es geschafft haben, sich durch ein intensives branding in Sicherheit zu bringen, wollen wir in diesem Zusammenhang nicht reden). Das geht auf Dauer nicht gut. Eine Kultur, die auf eine Filmkritik von Rang wert legte, müsste auch für deren Produzenten, den Autor, sorgen. Autorinnen und Autoren von Filmkritik aber sind in ihrer Position konsequent abgewertet worden; sie sind das schwächste Glied in der Kette, die ohnehin nicht mehr viel hält. Von ihrem ökonomischen Desaster ganz abgesehen sind die Autoren auch nicht mehr in der Lage, den Schüben der Versimpelung und des Mainstreaming (die Leser wollen es halt so) zu widerstehen. So sind sie am Ende die lästigen Leute, die etwas Schwarz-Auf-Weisses zwischen die bunten Bilder packen, die die Pausen zwischen zwei flotten Musikstücken füllen, die vor einem Film durch exzessiven Sprach-Gebrauch eine Stimmung wohligungeduldiger Erwartung erzeugen. Die intellektuellen Pausenclowns der kontrollierten Vergnügungssucht.

Eine Filmkritik, in der man in erster Linie ums eigene Überleben kämpft, ist vielleicht einigermassen lebendig und kontrastreich (gut für den Markt) und zur Revolte nicht aufgelegt (noch besser für den Markt), aber sie wird sich selber weder verstehen noch gar verändern können. Von ihr gehen keine Impulse zu wirklichen Projekten des Filmischen aus, denn diese haben ihre Medien nicht. Nicht mal ein bisschen. Was, wenn man bedenkt, dass sich unter Filmkritikerinnen und Filmkritikern durchaus kluge und sogar sympathische Zeitgenossen befinden, durchaus schade ist.

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Filmkritik ist freilich auch eine Sache der Lust. Auf einer Linie zwischen Genuss und Sucht. Oder Neugier und Fetisch. Also will Filmkritik, zu allem Überfluss, auch den Gesetzen der Lust gehorchen. (Und noch schlimmer: Sie will die Lust verbrämen, rationalisieren, verschieben: Filmkritik als doppelt wirksamer Prätext: Alles, was Filmkritik werden kann, darf man auch gucken.) Sonst hätte man ja auch was Besseres zu tun. Es ist die doppelte Lust am Sehen und am Text. Näheres beschreiben französische Meisterdenker. Wichtig ist: Die sexiness des Metiers, ein Cocktail aus Glamour, Erfahrung, Wissen, Sensation und Kommunikation, erzeugt ein kritisches Subjekt, das beständig zwischen Verliebtsein und Enttäuschtwerden taumelt. Natürlich auch ein Trick: Vor den Gefahren von Langeweile und Korruption flüchtet sich der kritische Text in die persönliche Intimität. Schön und gut: Wie sollte eine westlich-bürgerliche Kultur anders denken und verstehen als am Leitfaden der Biographie. (Interessanterweise versetzt die Globalisierung des Kinos, etwa die Popularität des asiatischen Films, auch die Kritik in bizarre Erregung: Nicht nur gewisse methodische und ästhetische Standards gelten da nicht, der ganze Übersetzungsprozess der Kritik müsste sich ändern – weshalb wir uns, was dies anbelangt, am liebsten in die Rolle des naiven Fans zurückbegeben.)

Lust ist übrigens immer etwas Gefährliches. Eines der Lieblingsworte des deutschen Kritikers ist „guilty pleasure“.

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Filmkritiker wird man vielleicht unter anderem deswegen, weil einem die Sache mit den Bildern in der Welt nicht geheuer erscheint. Das ist die fundamentale Frage hinter dem Tagesgeschäft: Wie funktioniert eigentlich „Film“ (und wie einige der grössten Filmemacher stellt sich auch der Filmkritiker von Rang diese Frage immer dringlicher, und er weiss es, je mehr er von Filmen weiss, umso weniger: Am Ende eines erfüllten Kritikerlebens würde wahrscheinlich die Abwesenheit jeder Gewissheit, ein vollkommen offener Blick stehen – die Frage, die von keiner Antwort-Konvention mehr beschmutzt wäre). Die Frage ist also: Wie eignet sich der Mensch durch die filmische Organisation der Bilder die Welt an (und umgekehrt: wie ergreift die Welt durch die bewegten Bilder von ihm Besitz)? Es ist ein Ausloten der Grenzen dieser Aneignung und Inbesitznahme, das an jedem neuen Beispiel unternommen wird.

Aber neben dieser fundamentalen Frage nach den Bildern und – gewiss – nach den Menschen, die ihren Gebrauch verändern, gibt es die konkreten Fragen nach der Praxis der Film-Bilder in einer Gesellschaft. Nach Ideologie, Propaganda, Subversion, Biographie, Lust, Bestätigung, Werbung, die Frage, kurz gesagt, danach, warum die Bilder sich unter unseren Bedingungen so und nicht anders bewegen.

Zwei Fragen, die einander bedingen und ausschliessen: Was können die (Film-)Bilder, und was dürfen sie? Ausgehend von der seltsamen Erfahrung, dass alle möglichen technologischen und ästhetischen „Revolutionen“ stattfinden, in der mainstream-beruhigten Kultur aber dennoch immer wieder dieselben Bilder akzeptiert und die anderen entweder wieder verworfen, oder den akzeptierten Bildern unterworfen und mit ihnen verschmolzen werden. Theoretisch kann man sich das Problem vielleicht vom Hals schaffen, indem man trennt zwischen dem visuellen Code und dem Bilder-Code (ähnlich, aber nicht gleich so, wie man anderswo zwischen der Sprache und dem Gesprochenen unterscheidet). Der visuelle Code und der Bilder-Code sind nicht identisch, so wenig wie später der kinematografische und der filmische Code identisch sein werden, und so wenig schliesslich der digitale Code und der Computergrafik-Code miteinander identisch sind. Der visuelle Code beschreibt nichts anderes als die Erinnerbarkeit und Reproduzierbarkeit der Welt durch Methoden, Werkzeuge und Begriffe, während der Bilder-Code durch die Kommunikations- und Machtformen in einer Kultur (der Bilder) bestimmt wird. Der visuelle Code „Rose“ und der Bilder-Code „Rose“ sind voneinander abhängig und zur gleichen Zeit „unversöhnlich“ getrennt. Und es ist ein Unterschied, was ein Film in der Welt sagt, und was er in der Geschichte sagt. (Noch eine Definition von „Kunst“, bitteschön: Die Sehnsucht danach, visuellen Code und Bilder-Code „wieder“ zusammen zu bringen.) Und Filmkritik ist damit die mehr oder weniger schöne Kunst, zugleich zwei Codes und die komplizierte Beziehung zwischen ihnen zu untersuchen. Was, lustvoll, im einen Fall zum radikal Utopischen und im anderen zum radikal Analytischen (und damit vielleicht: Dissidenten) führt. Denn was wir sehen, ist immer das Bild im Zustand des Zugriffs auf es.

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Filmkritik ist im besten und im schlechtesten Fall nichts anderes als die Formulierung dessen, was einem durch den Kopf geht. Also Vorsicht!

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Glücklich ist die Filmkritik, wie auch andere ästhetische Kritik, dort, wo sie sich verbündet, sehen mag zu einer Zukunft, mit sozialen Bewegungen, mit der ästhetischen Produktion selber, mit den Projekten der Kultur wie der Aufklärung und dem Humanismus oder wenigstens einer halbwegs erfreulichen und bewohnbaren Szene. Natürlich ist auch die Rolle des flanierenden Snobs nicht vollständig zu verachten. Besonders wenn man gerechtfertigterweise annehmen muss, viel zu leicht instrumentalisiert oder ruhiggestellt zu werden. Die Differenz ist vorgegeben, Filmkritik ist tückischerweise nämlich auch die Kritik der politischen Kritik. Eine Kritik der Mittel, die auch die Zwecke nicht ungeschoren lässt. Aber schöner ist Kritik, die das Gefühl hat, sich nützlich gemacht zu haben. Man kann, nur zum Beispiel, der Herrschaft ihre Interessen nachweisen, ihre Lügen, ihren Terror. Aber schon bei der Frage: Warum werden die Lügen so gern geglaubt? könnte ästhetische Kritik durchaus nützlich sein. „Gesellschaftskritik“, das wird vom Gutmeinenden und Besserwollenden durch nichts als Präzision zur zugleich allgemeinen und konkreten Frage: Wie funktioniert Macht durch die Bilder? Und wie funktioniert Dissidenz, Gegen-Macht, oder besser: vitale Ohn-Macht durch die Bilder?

Das eben ist eine Frage des Zusammenhangs. Weshalb das Beste an Filmkritiken natürlich das ist, was von pflichtbewussten Redakteuren in der Regel herausgestrichen wird. Die Abschweifung.

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Jeder Satz ist politisch. Aber nicht jeder ist es aus freien Stücken. (Und jede Kamera-Einstellung ist politisch. Aber nicht … ja, ist ja schon gut.) Jeder Satz in einer Filmkritik ist wiederum Modell und Abbild von Kommunikationsvorgängen („Gesellschaft“), und unter anderem kommt es dabei darauf an, welche Rolle die Leserinnen und Leser oder Hörer und Hörerinnen dabei spielen. Man muss als Filmkritiker vermutlich nicht nur zum Objekt des Textes, den Filmen und ihren Autoren, sondern auch zu den Empfängern des Textes eine emotionale und semiotische und eben auch: eine politische Beziehung haben. Man muss, behaupte ich, einander prinzipiell mögen. Das Denken ist wichtiger als das Gedachte; wie der Film so muss auch der filmkritische Text an seiner Offenheit arbeiten. Man kann ihm verzeihen, wenn er verrückt spielt, einen narzisstischen Anfall bekommt oder in Hingabe schwelgt; nicht verzeihen kann man ihm, wenn er den Leser bevormunden, ihm das Denken abnehmen oder ihn ideologisch umgarnen will. Nennen wir das Ideal einfach: Respekt. Eine Filmkritik ist eine kommunikative Praxis, deshalb Politik, und deshalb braucht man an die Sache mit der Gesellschaft gar nicht erst zu erinnern. Wenn man das Bild ohne die Gesellschaft sieht, ist man, was Kritik anbelangt, stumm, wenn man aber Gesellschaft ohne das Bild ansieht, ist man blind. Gönnen wir uns ein wenig Pathos: Filmkritik „von Rang“ wäre der ewigwährende Versuch, die Verhältnisse zwischen Blick und Bild, zwischen Produktion und Rezeption, zwischen der Ideologie und dem Traum, zwischen Autor und Publikum, zwischen Erfahrung und Diskurs – zu demokratisieren.

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Aber für den Anfang würde es vielleicht genügen, dass wir uns gegenseitig nicht für blöd halten. Und nach jedem Film und nach jeder Kritik ein kleines bisschen weniger blöd sind.

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