Überspringen zu Hauptinhalt

Zu behaupten, unsere Welt sei schnelllebig, ist eine Untertreibung. Die „Zeitung von heute” ist veraltet, noch bevor sie gedruckt ist. Und natürlich ist nichts älter als das Festival von gestern. Bei „Crossing Europe” in Linz versucht man sich der Logik des Jetzt und Sofort zu Entziehen – weshalb es vielleicht Sinn macht, hier die Notizen von Gabriela Seidel-Hollaender nachzuliefern, die für uns ihre Eindrücke aufgeschrieben hat. (Das Festival ist vor zwei Wochen zu Ende gegangen) ch

Das Donauschiff „Anton Bruckner“ liegt gleich neben dem Lentos Kunstmuseum und legt stromaufwärts ab. Gegenüber blinkt die LED-Leuchtenfassade eines modernen Gebäudes in grellen Farben. Verschieden Formen entstehen auf den Flächen des Baus. Es ist das Ars Electronica Center, das 1979 gegründet wurde und nach Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen Kunst, Technologie und Gesellschaft sucht. 1988 wurde dort der Pixar Gründer John Lasseter mit dem Ars Electronica Preis geehrt. Auf der anderen Seite, etwas weiter weg vom Ufer liegt der barocke Hauptplatz der Stadt mit seiner Pest- oder Dreifaltigkeitssäule aus dem 18. Jahrhundert. Was für ein Kontrast. 
Ich treffe Kollegen, Bekannte, Freunde. Festivalgäste und Mitarbeiter sind an Bord, es gibt Steckerlfisch, man tauscht sich aus. Ich bin froh, dass ich da bin, werde viele Filme sehen und Leute treffen, die mich interessieren. 

Später gehe ich in den Ursulinensaal des ehemaligen Barockklosters und schaue mir „Chemical Brothers: Don’t think“ von Adam Smith an. Ein Film des Liveauftritts der Band in Japan. Technomusik und eine psychedelische Bühnenshow. Aufgenommen mit 21 Kameras, wie ich später nachlese. Die ekstatische Show überträgt sich durch den Film in den Saal: Einige Zuschauer tanzen. Super Show, gut gemacht. Trotzdem fühle ich mich bestätigt: Ich mag eigentlich Konzerte und Bühnenshows im Film nicht oder jedenfalls nicht besonders. Weil hier der Film zur Konserve wird. Der Liveauftritt steht ja für sich. 

Am nächsten Morgen der griechische Film „To Agori Troi To Fagito Tou Pouliou / Boy Eating the Bird’s Food“ von Ektoras Lygizos. Der Film hat weniger als 10.000 Euro gekostet, erfahre ich später. Er ist mit einer kleinen digitalen Spiegelreflex-Fotokamera gedreht. Der Junge, der das Vogelfutter isst, ist ein Sänger in Athen, der sein Geld nicht mit seiner Kunst verdienen kann. Er hält sich stattdessen mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser. Doch es gelingt ihm nicht und er dreht zusehends durch, endet auf der Straße. Die wackelige Handkamera bleibt dicht am Protagonisten und zieht den Zuschauer auf beinahe körperlich anstrengende Weise mit hinein in seinen alltäglichen Kampf um Job und Überleben. Mir ist ganz schwindelig. Als ich rauskomme kaufe ich mir gedankenlos eine Tüte Studentenfutter.

Am Nachmittag der schwedische Spielfilm „Äta sova Dö / Eat Sleep Die“ von Gabriela Pichler. Mir gefällt der Titel: Statt „Eat Pray Love“- „Eat Sleep Die“, viel realistischer und ein wirklich schöner Film. Die Schauspielerin Nermina Lukac spielt eine aus Montenegro stammende arbeitslose junge Frau in Schweden die alles daran setzt wieder einen Job zu finden. Lukac macht das so energiegeladen wie überzeugend. Und der Film entlässt einen, trotz all der gezeigten Schwierigkeiten, mit einem Gefühl der Hoffnung.

„Sekret / Secret“ heißt der neueste Film des polnischen Regisseurs Przemysław Wojcieszek. Das Festival zeigt ein Werkschau des Regisseurs, sechs Filme hat er gemacht, einer davon „work-in-progress“. Die Festivalleiterin Christine Dollhofer erzählt mir später, dass die Negative der Filme Wojcieszeks verschollen waren. Die Produktionsfirma gibt es nicht mehr und die Filme waren verschwunden. Das Festival hat das polnische Kulturinstitut dafür gewinnen können Kopien zu ziehen, die archiviert werden. Der Kinosaal ist klein und voll. Draußen steht eine Schlange von Leuten, die noch rein wollen. „Secret /Sekret“ ist knalliger, radikaler Film der an der polnischen Geschichte kratzt und Tabus berührt. Ein Drag-Queen-Tänzer und seine jüdische Agentin Karolina fahren zu seinem Großvater aufs Land. Der lebt in dem ehemaligen Haus von Karolinas Großeltern und sie ist überzeugt davon, dass er für ihren Tod verantwortlich ist. Der Regisseur arbeitet mit unterschiedlichen Stilen, Jump Cuts, und einer eigenwilligen Dramaturgie. Der Film hat eine starke Wirkung auf mich, auch wenn ich einiges zu dick aufgetragen finde. Aber er trägt eine große Energie, auch Wut in sich, was mir gefällt. Beim Abendessen sitze ich am Tisch mit Przemysław Wojcieszek. Er sagt, „Secret / Sekret“ ist sein wichtigster Film weil er hier keine Zugeständnisse gemacht hat. Er hat genau das machen können was er wollte. Obwohl auch dieser Film mit einem sehr geringen Budget entstanden ist. Ich frage ihn nach seiner Kamera. Auch er hat mit einer Fotokamera gedreht. Aber er hat fast ausschließlich mit Stativ gearbeitet. Die Kamera ist phantastisch, meint er, nur die Grautöne fehlen. Wojcieszek hat sich viel mit Fassbinder beschäftigt und vermisst bei den deutschen Regisseuren heute die Besessenheit von RWF. Alles ist brav und reflektiert findet er, kaum einer brennt für seine Sache so sehr wie Fassbinder, ist so verrückt. Ich sage, es gibt deutsche Regisseure, die für ihre Sache brennen, aber sie brennen anders. Vielleicht hat er trotzdem recht. Zu brennen drückt sich heute anderes aus als zu Fassbinders Zeiten. 

Am späten Abend gehe ich wieder in den Ursulinensaal. Diesmal wird die sexuell aufgeladene skurril-bunte Elektro-Pop-Oper der Bühnenkünstlerin Peaches gezeigt: „Peaches does it herself“. 

Ich frage mich, wie viele Filme man an einem Tag sehen kann. Ich glaube mehr als vier Filme sind eigentlich kaum zu schaffen. 

Nächster Tag: Im EXTRA KINO des OK sind Film-Installationen des israelischen Künstlers Omar Fast zu sehen. Sein Film „Continuity“, der bei der dOCUMENTA 13 Premiere hatte, wird in einem aus Karton gebauten Kunstkinosaal gezeigt. Eine Art Zelt aus Pappe. Das Festival zeigt mehrere Cross Over-Projekte. Geruchskino von Wolfgang Georgsdorf, Collagen aus Found-Footage: Bildern, Fotos, Postkarten und 16mm Material von Thomas Draschan. Die Schnittstelle zwischen Film und Kunst, die Reflexion über den Kinoraum: geschlossen, offen, innen und außen, online, interaktiv. Ein Versuch den Kinobegriff zu erweitern. Öffnet Kopf und Vorstellung dafür, was Film eigentlich ist und sein kann.

Ich gehe wieder ins Kino. „Im Alter von Ellen“ ist ein Film von Pia Marais der von einer Flugbegleiterin erzählt, die aus dem was ihrem Leben bisher Struktur gab herauskatapultiert wird und anschließend ziellos durch ihr Leben driftet. Wir beobachten sie dabei bis sie schließlich in Afrika landet. Sie schließt sich zwischendurch einer Gruppe von militanten Tierschutzaktivisten an, die in ihrer Wohngemeinschaft einen radikal-basisdemokratischen, in Wahrheit pseudopolitischen Lebensstil pflegen. Pia Marias konfrontiert diese Gruppe mit ihrer somnambulen Protagonistin, die ihr Konzept konterkariert. Jeanne Balibar spielt die 40-jährige Ellen fragil und zugleich in sich ruhend, geheimnisvoll, nie eindeutig. Eine Figur auf der Suche nach der Lebensform die zu ihr passt. Und das in einem Alter, wo gemeinhin von ihr erwartet wird, zu wissen, wo es für sie hingeht. Im Gespräch nach dem Film sagt Balibar sie hatte das Gefühl, dass Pia Marais in Deutschland deswegen keine Schauspielerin für die Rolle gefunden hat, weil sie in Wahrheit von Anfang an eine Schauspielerin aus dem Ausland wollte. Die Rolle lebt von dem schwebenden Element der Figur und deren Deplatziertheit. Sie gehört nirgends richtig dazu. Balibar ist die perfekte Besetzung. 

Ein weiterer Film ist mir stark in Erinnerung geblieben. „Es muss was geben“ von Oliver Stangl und Christian Tod. Der Dokumentarfilm porträtiert die Linzer Underground-Musikszene Ende der 70er bis Anfang der 90er Jahre und mit ihr die Stadt und deren Geschichte. Auch hier geht es um Lebensformen und –entwürfe und eine rebellische Haltung, die überhaupt nicht verstaubt wirkt.

Ich spreche mit der Festivaldirektorin Christine Dollhofer, frage sie nach dem Konzept des Festivals und ihrer Bilanz nach zehn Jahren. Sie ist zufrieden, freut sich über die entstandene Kontinuität. Für viele Regisseure ist das Festival ein Ort zu dem sie gern zurückkommen. 

Auf der Außenwand des Kinos Movie 1 die Projektion eines Fallschirmspringers der seine schwerelosen Kapriolen im freien Fall schlägt. Ich denke sofort an den Salzburger Extremsportler Felix Baumgartner, der uns letztes Jahr mit seinem Sprung aus der Stratosphäre genervt hat. Bis die Kamera aufzieht und wir uns in einem überladenen taiwanesischen Haushaltswarengeschäft wiederfinden, in dem der Fallschirmspringer im Fernsehen zu sehen ist. Es ist der Crossing Europe Trailer von Ella Raidel. Er ist aus dem Kino herausgetreten und nimmt den öffentlichen Platz in Beschlag. 

Gabriela Seidel Hollaender