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„Morgens um vier bricht Rainer Werner Fassbinder mit seiner Entourage in die Diskothek Dschungel, das Gestrüpp von Herumstehenden vor der Theke weicht sofort zurück, und die ganze Truppe marschiert wie ein Keil nach hinten zur Tanzfläche durch. Dort kleben sich seine Leute an die Wände und trinken stoisch, während Fassbinder in die Mitte strebt und sich zu winden beginnt. Er trägt eine schwarze Jeans, schwarzes Hemd, darüber eine schwarze Weste. Auf dem Kopf hat er einen breiten schwarzen Hut. Sein Gesicht wird von einem fellartigen schwarzen Vollbart verdeckt, dazu Sonnenbrille. Vielleicht kommt er gerade von einem Dreh, es muss kurz vor seinem Tod im Sommer 1982 sein. Spektakulär ist sein Schlüsselbund, ein gewaltiges, schweres Teil. Es hängt mit daumendicker Kette an seinem Hosenbund und reicht bis fast auf die Erde. Der Unerkennbare – die Bühne gehört nach wenigen Minuten ihm allein – beginnt einen expressionistischen Veitstanz, es reißt ihn herum, zieht ihn hinunter, wieder hoch, es schleudert und dreht ihn. Er wird das Opfer seltsamster Verformungen. Seine Fäuste ballen sich, und der Schlüsselbund schwingt als eine Art Gegengewicht, verhindert, dass es ihn vollends umreißt. Nur sein Gesicht, soweit ich es erkennen kann, bleibt starr. Es scheint unermesslicher Schmerz zu sein, den er in dieser Übung stumm herausschreit. Sichtbarer motorischer Kontrollverlust, vermutlich durch Alkohol und Koks, verleiht diesem Ausdruckstanz weitere Eindringlichkeit. Er ist sehr einsam, keiner kann und will ihm helfen. Er ist ein alter Sack.”

Aus: Schmidt, Thomas E.: Als ich mal dazugehörte.

Erschienen in der aktuellen (Sonder-) Ausgabe des Magazins Merkur. Den Text kann man online hier nachlesen.

(Eingestellt von Christoph)