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Aysun Bademsoys Dokumentarfilm EHRE wird ab 31.5.2012 um 18.00 Uhr 
im Berliner FSK-Kino in Kreuzberg (am Oranienplatz, Segitzdamm 2) zu sehen sein. Am 1.6.2012 besteht nach dem Film Gelegenheit, mit der Regisseurin zu diskutieren. Nachfolgend ein Text über die Ursprünge des Projektes.

EHRE
Von Aysun Bademsoy

In den Neunzigerjahren arbeitete ich, um mein Studium zu finanzieren, in einem Frauenhaus in Berlin-Spandau. Ich betreute eine türkische Frau, Nuriye Bekir. Sie wurde später vor den Augen ihrer vier Kinder von ihrem Mann mit einer Gaspistole betäubt und anschließend mit 22 Messerstichen ermordet. Bei der Gerichtsverhandlung war ich als Zeugin geladen und musste über den Ehemann aussagen, der zum Entsetzen aller Zuhörer im Gerichtssaal davon überzeugt war, das Richtige getan, nämlich „im Namen der EHRE getötet“ zu haben. 

Vor drei Jahren wurde Hatun Sürücü von ihren Brüdern ermordet. Ich hatte in dieser Zeit mit den Recherchen für einen Dokumentarfilm begonnen, war auf Hatun Sürücü gestoßen und begleitete sie mehrere Monate durch ihren Alltag. Hatun hatte sich von ihrer Familie losgelöst. Sie lebte mit ihrem sechsjährigen Sohn Can allein in einer Zweizimmerwohnung in Berlin-Tempelhof und hatte eine Lehre begonnen. Sie hatte sich ein eigenes Leben aufgebaut. Ihr Abnabelungsprozess, die bewundernswerte Kraft, mit der sie für ihre Eigenständigkeit kämpfte, sollte Thema meines Projekts werden.

Doch die Familie duldete ihre Unabhängigkeit nicht. Die Konsequenz war ein kollektiv geplanter Mord, ausgeführt von dem jüngsten Bruder, den sie liebte und der auserkoren wurde, weil das Jugendstrafgesetz eine vergleichsweise niedrige Strafe für ihn vorsieht. Auch die Familie berief sich auf die EHRE, die von Hatun verletzt worden sei. 

Was hat es auf sich, wenn eine zuständige deutsche Jugendrichterin arabische Eltern zu sich einlädt und nur abweisende Väter bei Ihr erscheinen, die mit der Gebetskette vor Ihrer Nase sagen: „Ich habe elf Kinder, und meine Töchter sind meine EHRE, sie sollen gute Hausfrauen und gute Mütter werden und brauchen keinen Schulabschluss!“? In einem solchen Moment hat selbst die Richterin mit dem Erhalt ihrer EHRE zu kämpfen, fühlt sie sich doch von den Arabern nicht ernst genommen, in ihren moralischen, ethischen und kulturellen Kontext missachtet und letztlich auch als Frau diskriminiert.

Während meiner dokumentarischen Arbeiten, etwa über die türkischen / kroatischen Polizisten, die türkische Boxerin oder auch die Fußballerinnen, wurde ich immer wieder mit dem Begriff der EHRE konfrontiert. Ich hatte den Eindruck, es müsse eine Annäherung, eine Öffnung und eine breitere Betrachtung des Begriffes geben. Denn nur selten wird in unserem Alltag über EHRE gesprochen. Es scheint, als würde dem Begriff der EHRE etwas seltsam Altmodisches anhaften, dabei gibt es auch im täglichen Leben immer wieder Situationen, in denen wir darauf zurückgreifen: Jemand gibt ein Ehrenwort, etwas ist uns eine EHRE, jemand ist ein Ehrenmann oder jemand fordert eine Ehrenerklärung nach übler Nachrede. 

Ich habe versucht, meine Gesprächspartner mit dem Begriff EHRE zu konfrontieren und herauszufinden, ob und welche Bedeutung er in ihrem Leben, in ihrem Alltag hat, welche Vorurteile ihn bestimmen, welche Hoffnungen sich an ihn heften. In Alexander Kluges Film DIE PATRIOTIN begibt sich die Geschichtslehrerin Gabi Teichert mit einem Spaten auf die Suche nach der deutschen Geschichte. Sie reist durch Deutschland und gräbt sich immer tiefer. Ich habe versucht, diese Bewegung aufzunehmen, habe mich auf die Suche nach Orten begeben, wo der Begriff der EHRE einst Bedeutung hatte und jetzt möglicherweise neu definiert wird.   

Die Bundeswehr ist eine Station gewesen. Der Begriff der EHRE ist dort seit 1945 Teil eines „verminten Terrains”. Findet in den Zeiten deutscher Auslandseinsätze wieder eine Umdeutung statt? Begriffe wie „Soldaten EHRE” oder die „EHRE, für das eigene Land zu sterben“ gewinnen wieder ganz konkret an Bedeutung. „Insbesondere bei Auslandseinsätzen ist es notwendig, sich der eigenen Kultur und Begriffsdefinition von EHRE bewusst zu sein“, sagt der Koblenzer Oberstleutnant für Innere Führung. 

Ich habe Orte aufgesucht, an denen der Begriff der EHRE einen fundamentalen, ethischen, moralischen und kulturellen Rahmen manifestiert. So beobachtet der Film die Arbeit an der Begriffsdefinition der EHRE in verschiedenen sozialen Projekten. Die Gerichtshilfsgruppe in Wedding, das Anti-Gewalt-Training der Präventionsarbeit des Landeskriminalamtes – Organisierte Jugendkriminalität, der „Mitternachtssport” in Berlin/Spandau, die Psychosomatische Klinik in Ludwigsfeld (für Patienten mit Migrationshintergrund) oder das Violence-Prevention Network der Jugendhaftanstalt Hameln, in dem mit Mitgliedern fundamental-islamischer Gruppen gearbeitet wird. Das sind die Drehorte des Films. Immer wieder gibt es einen 360° Schwenk, an alltäglichen Orten, man sieht Telefonzellen, eine Kreuzung, ein Wohngebiet: Schauplätze von „Ehrenmorden“, die das Themas des Films zuspitzen.

Aysun Bademsoy

(Eingestellt von Christoph)