Unser Heft 50 ist gerade frisch aus der Druckerei eingetroffen. Darin auch das Interview mit Sohrab Shahid Saless von 1977 "Stilles Leben in der Fremde", wiederabgedruckt im dreibändigen Werk "Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless. Annäherungen an ein Leben und Werk" von Behrang Samsami. Am 28. Juni 2024 wäre Saless achtzig geworden. Ein Gastbeitrag zum Anlass.
Heiner Müller: BESUCH BEIM ÄLTEREN STAATSMANN
BESUCH BEIM ÄLTEREN STAATSMANN Seine Gesundheit Ist angegriffen der Wodka nur für die Gäste Beim Tee seine Hände Der zögernde Griff Nach dem Teeglas Es könnte voll Blut sein Er kennt Die Verbrechen des Jahrhunderts Hin und her Zwischen den geheimen Mächten 30 000 Haben die Briten in Griechenland ... Die Amerikaner wollten de Gaulle ... Churchill bezog ein Salair von ... Der Folterer Barbie War der Erfinder der Barbiepuppe Die Helden des 20. Juli Sind Märtyrer geworden weil der ... Seine Hand aus der Operation zog Und sein Geld Als Stauffenberg Linkshänder wurde Die Balten Haben den Deutschen viel Arbeit erspart mit den ... Ich habe Angst vor meinem eignen Schatten Sagte Stalin zu Shukow 1946 Als Hitler der Treibstoff ausging begann der Golfkrieg Und welches Volk in Europa wäre nicht glücklich Heute mit fröhlicher Mehrheit unter dem Hakenkreuz Der letzten Utopie des Kapitals Wie das deutsche Volk glücklich war erstmalig In seiner grauen Geschichte voll geografischen Unheils In der Freiheit von Juden Zigeunern Perversen Kommunisten Asylantenpack Die Wälder intakt und die Wiesen Bis die Rechnung kam Was wußte Hegel der Stümper von Politik Aus der Geschichte lernen heißt das Nichts lernen Politik ist DAS MACHBARE Ein Männertraum Aus dem kein Kind schreit In allen Sprachen Heißt die Zukunft Tod Die Hände des älteren Staatsmanns Manchmal sieht er sie an und bewegt sie im Schweigen Wie beim Gespräch Sein Monolog ist stumm Mit dem Blick auf seine Hand zögernd am Teeglas Das Vergessen macht den erfolgreichen Staatsmann Ihre Gefühle Hatten Sie Gefühle Welche wenn ja Bei der Vertreibung aus Ihrem letzten Büro Gefühle Nichts fühlte ich nichts nichts nichts nur die bittere Leere Beim Zuhören hinter Gerüchten Mythen Legenden Tauchen die Nachrichten auf wird mein Blick Auf seine Hände zum Spiegelblick Seine Trauer gerinnt Zu meinem kälteren Text Was geht mich die Welt an Ich Esse ihre Bilder Die Wahrheit WAHRHEIT Ist kein Gegenstand Die Farben der Lüge sind Mein Bier Ich verlasse den älteren Staatsmann Seine Gestalt in der Tür gebeugt von HERRSCHAFTSWISSEN Seinen doppelten Händedruck Mit dem erhabnen Gefühl Daß die Welt an uns vorbeigeht und es macht nichts 21.12.1992
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(Eingestellt von Christoph)