Unser Heft 50 ist gerade frisch aus der Druckerei eingetroffen. Darin auch das Interview mit Sohrab Shahid Saless von 1977 "Stilles Leben in der Fremde", wiederabgedruckt im dreibändigen Werk "Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless. Annäherungen an ein Leben und Werk" von Behrang Samsami. Am 28. Juni 2024 wäre Saless achtzig geworden. Ein Gastbeitrag zum Anlass.
Geschichten vom Kübelkind (1970)
Warum Kübelkind?
Ein Statement von Ula Stöckl und Edgar Reitz
– Weil wir 1969 keine Lust hatten, einen 90 Minuten-Spielfilm zu machen, der wieder ohne Verleih bleibt.
– Weil uns mehr Geschichten einfielen, als für einen Spielfilm gut- gewesen wäre.
– Weil wir uns beim Drehen nicht festlegen wollten, ob der Film 2 oder 20 Minuten lang wird. Deswegen haben wir dann viele 2 – 20 Minuten lange Filme gedreht.
– Weil, wenn man nicht an einen deutschen Verleih denken muß, die Welt wieder schöner wird.
– Weil wir wahre Geschichten lieben, aber auch unwahre.
– Weil das Kübelkind manchmal am Ende einer Geschichte tot sein darf, ohne für die nächste Geschichte gestorben zu sein.
– Weil wir gerne mit Kostümen spielen, aber auch ohne.
– Weil wir gerne eine Erziehungsgeschichte drehen wollten.
– Weil wir alle unsere Freunde in schönen Rollen sehen wollten.
– Weil wir eine solche Wut hatten.
– Weil das Kübelkind gerne fickt.
– Weil wir Scheiße finden, daß sie das büßen muß, und weil wir auch auf die F S K scheißen.
– Weil eines Tages die Kassetten kommen,und weil wir wissen wol- len, ob das auch wieder so wird wie mit den Verleihern.
– Weil wir vom Bundes-Innen-Ministerium gerade Geld bekommen hatten und es auf keinen Fall zurückgeben wollten.
– Weil wir auch Kübelkinder sind…
– … und schließlich haben wir dann in München ein Kneipenkino aufgemacht, und da läuft Kübelkind alle Tage außer montags ab 23 Uhr, Eintritt D M 3,50, und Kübelkinder stehen auf der Speisekarte.
Nicht besonders wertvoll
Filme im Münchner Rationaltheater – von Frieda Grafe
Kübelkind soll ein Wiener Schimpfwort, ein Kraftwort sein, um zu bedeuten, daß jemand der letzte Dreck ist, zum Wegschmeißen, am Anfang dieses Wortes steht die Vorstellung von der Nachgeburt, die in die Abfalltonne geworfen wird. Die Figur, die so heißt in den Filmen von Ula Stöckl/Edgar Reitz, taucht folgerichtig aus einer schwarz-roten, diamanten schimmernden Masse in einem Müllkübel auf. Gleich als fertiges Mädchen, um die Zwanzig. Jemand von der Wohlfahrt entdeckt sie da. Ein Kübel ist kein menschenwürdiger Wohnort, deshalb wird sie in die Gesellschaft eingeführt. Das sind viele, häufig wechselnde Pflegestellen, die alle auf diese und jene Weise zu ihrer Entwicklung beitragen. Aber wie man schon aus dieser vater- und mutterlosen Geburt schließen kann: Therese ist ein kleines Monster. Undisziplinierbar, zigeunerhaft, eine Gefahr für alles Normale. Nachwuchs im eigentlichen Sinn ist sie nicht, nur Ausschuß. Und auch Alraune.
Die Freiwillige Selbstkontrolle, der Schutzverband der Kinobranche, hat das gleich erkannt. So viele polierte Schweinereien sie auch sonst durchläßt, meistens unter dem berühmten Kunstvorbehält: Hier konnte sie keine Kunst mehr sehen. Darin hatte sie auch recht.
„… randvoll mit unsittlichen Redensarten, Verunglimpfung reliöser Werte, Darstellung des Sexuellen in abstoßender Form … Ergebnis: freigegeben ab 18 Jahren mit Schnittauflagen, aber nicht an den gesetzlich festgelegten stillen Feiertagen.“ Wer wissen möchte, aus welchen Vorurteilen das allgemeine moralische Empfinden derer sich zusammensetzt, die die Kinos mit Pornoschinken verstopfen, der sollte sich die GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND anschauen. Auch noch aus anderen Gründen.
Man kann sie abends ab 23 Uhr im Rationaltheater in der Hohenzollernstraße sehen. Für 3.50 Mark kann man aussuchen aus den inzwischen fertiggestellten zweiundzwanzig Geschichten. Wenn man Glück hat, das heißt, wenn genug andere Gäste von denselben Titeln sich anlocken lassen, bekommt man sie zu sehen. Außer Kübelkindgeschichten gibt es noch Filme (4-30 Minuten Länge) aus der Kinofrühzeit, von Griffith, Ince, Melies mit Gloria Swanson, Mary Pickford, Mack Sennetts Bathing Beauties, Harry Langdon und Tarzan.
Und zwischendurch geht immer wieder das Licht an. Die Gäste gruppieren sich ständig neu, wie in einem Kaleidoskop, mal zur Leinwand, mal ums Bier. Das ist sicher noch nicht das, wovon die Anvantgardisten unter den Kinomachern und -bauern träumen, die wegkommen wollen vom Guckkastenkino. Aber es ist eine kleine Veränderung. Man erfährt an sich selbst, was für ein reaktionärer Kunstkinogänger man ist, weil man lieber schön kontinuierlich im Dunklen sitzen mag, sich faszinieren lassen will und die, die immer schon alles wissen und ständig reden, am liebsten erwürgen möchte. Der Faszination und in Schweigen zu verfallen – soweit kommt es bei dieser Art Filmen und Vorführung nie. Es wird ununterbrochen geredet. Außerdem, daß man weiß, wohin der Hase läuft, ist eine der Grundgegebenheiten dieser kurzen Filme.
Bei den alten, weil unser Kino sich aus ihnen entwickelte; es sind seine Ursituationen, Urszenen. Bei den Kübelkindgeschichten, weil sie ganz eindeutig allem Autorenkino entgegengesetzt konzipiert sind, keine originelle, eigene Erfindung. Sie sind so vater- und mutterlos wie Therese. In allem sekundär. Wiederholung, Nachahmung; Parodie wäre schon zuviel gesagt, Rückgriff auf populäre Vorstellungen mit Hexen, Vampiren, entsprungenen Nonnen, auf bekannte Genres: Operetteneinlagen und Verfolgungsjagden wie mit den Keystone Cops. Besonders hübsch sind einige Verkleidungsnummern, inszenierte Stücke aus Dumas‘ ‚Drei Musketiere‘, deren unglaublich verfilzte Erzähllogik gerade dadurch, daß sie so abgebrochen aufgeführt wird, schlaglichtartig an heruntergekommener Romantechnik darstellt, was wir unter glaubwürdiger Erzählkunst zu verstehen gewohnt sind. Die Kübelkindgeschichten sind nämlich auch gemacht gegen das Erzählkino – und da liegen ihre Verbindungen zu den Stummfilmen -, das mit dem Tonfilm sich breitmachen konnte; sie sind Antikulturfilm – wegen ihrer Stückhaftigkeit und Unabgeschlossenheit, weil in ihnen unaufhebbare Widersprüche nicht durch Erzählkontinuität harmonisiert werden, wegen der (vor allem sexuellen) Aufsässigkeit ihrer vagabundierenden Hauptfigur,wegen der eigenartigen Verlängerung irrealer Strukturen. Sie unter den beschriebenen Umständen herzuzeigen, ist ein Symptom der gegenwärtigen Kinosituation.
Süddeutsche Zeitung, 14.4.1971
Welchen Reitz liebt man am Ende am meisten? Welcher bringt einen hier und jetzt weiter? Der Epiker? Der Handwerker? Der Träumer? Vielleicht der von seiner Zeit und Welt bewegte Mann, der mit Ulla Stöckl GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND (1970) machte, eines der großartigsten Werke des bundesdeutschen Films. Das Kübelkind ist nicht brav. Es ist so asozial wie alle Kinder, denen die Eltern nicht das letzte bisschen Selbst wegerzogen haben, oder vielleicht noch ein bisschen mehr. Die Geschichten sind manchmal eklig und manchmal erschreckend und manchmal komisch und manchmal drollig. Geschichten vom Kübelkind ist durch und durch Kino in 23 Geschichten. Man könnt sein ganzes Leben mit den 204 Minuten der Geschichten vom Kübelkind verbringen.
Am 1. Oktober 2013 um 19.30 spricht Ula Stöckl im Roten Salon der Volksbühne Berlin mit Saskia Walker über ihre Arbeit.