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Und dann steht Sterling Hayden da. Nachdem Wolf-Eckart Bühler längere Zeit versucht hat Hayden zu kontaktieren, um mit ihm über eine Verfilmung seiner Autobiografie Wanderer zu sprechen, findet er ihn schließlich auf einer Barkasse bei Besançon. Das unmittelbare Ergebnis dieser ersten Zusammenkunft, LEUCHTTURM DES CHAOS, ist jedoch nicht die Verfilmung des Buches, sondern zuerst einmal ein Dokumentarfilm über und mit Sterling Hayden. Als Hollywoodstar kennt man ihn, in seinen ikonischen Rollen in JOHNNY GUITAR, THE ASPHALT JUNGLE und THE KILLING etwa, wobei Hayden die meisten seiner Arbeiten mit verächtlicher Geste von sich weist und im Grunde neben THE ASPHALT JUNGLE nur noch DR. STRANGELOVE gelten lässt. Viel wichtiger ist ihm sein Leben jenseits Hollywoods: Mit kaum 20 Jahren war er bereits Bootskapitän, während des Zweiten Weltkriegs schmuggelte er Waffen für jugoslawische Partisanen, später dann sprach er sich gegen Krieg, das atomare Wettrüsten und für Bürgerrechte aus. Das ist die biographische Seite des Films. Was LEUCHTTURM DES CHAOS so besonders macht, ist seine entspannte Ruhe, mit der er Hayden gegenübertritt und ihn beim Nachdenken und Sprechen (in einem unnachahmlichen Duktus) beobachtet. Dabei entstehen wunderschöne Szenen, etwa die, in der er aus einem seiner Bücher vorliest und nach jedem Satz inne hält und diesen in ein seiner Meinung nach einfacheres Englisch für das Filmteam zu übersetzen versucht. Oder wenn er während Interviews immer wieder Passanten außerhalb des Bildes mit einem lautstarken Bonjour! grüsst.

Sieben Tage verbrachte Bühler mit Hayden. Es wird viel über das Meer gesprochen, die Seefahrt, über seine Alkoholsucht. Das zentrale Thema des Films ist jedoch Haydens Aussage vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe zu Beginn der 1950er Jahre. Hayden trat nach dem Zweiten Weltkrieg kurz der Kommunistischen Partei bei und sah sich dann im Zuge der antikommunistischen Hexenjagd gezwungen, vor dem berüchtigten Komitee Namen von anderen Kommunisten zu nennen. Eine Entscheidung, die er sein Leben lang bereute und unter der er massiv litt.

Ein Jahr später dreht Bühler dann mit DER HAVARIST seine Version von Haydens Wanderer. Man merkt diesem Film die intensive Lektüre des Buches an. Drei Schauspieler interpretieren Momente aus Haydens Leben, wobei seine Aussage vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe das finstere Zentrum dieses nicht minder außergewöhnlichen Films darstellt.

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Einige Straßen weiter, in einem anderen Kino, lief derweil die große Festival-Retrospektive, die dieses Jahr Leo McCarey gewidmet war. Auch McCarey musste vor dem Komitee aussagen. Als er nun vor das Komitee trat, hatte er gerade mit GOING MY WAY und THE BELLS OF ST. MARY’S zwei kommerziell überaus erfolgreiche Filme gedreht:

HUAC: “How did they do in Russia?”

McCarey: “We haven’t received one ruble from Russia on either picture. I think there is a character in there they don’t like.”

HUAC: “Bing Crosby?”

McCarey: “No. God.”

Befreundete Kollegen musste McCarey nicht verpfeifen, er war bekannt als überzeugter Antikommunist.

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Von den Repressionen im heutigen China erzählt der Wettbewerbsbeitrag A FAMILY TOUR von Ying Liang. Eine junge Regisseurin lebt mit ihrem Mann und 4-jährigen Sohn im Hongkonger Exil. Ihre Mutter konnte sie schon lange nicht mehr besuchen. Der kafkaeske Plan: Die Mutter nimmt an einer organisierten Reise nach Taiwan teil, die Familie reist ebenfalls auf die Insel und dem chinesischen Reisebus hinterher. So können sie in den gleichen Hotels übernachten und sich jeweils an den beliebten Touristenhotspots kurz treffen. Am schönsten in diesem Film ist, wie Ying Liang die Dynamiken innerhalb der Familie als konstantes Austarieren darstellt: Die Tochter, eine bekannte Dissidentin, möchte heimkehren, weiss jedoch, das dies kaum möglich sein wird, sie schwankt, zweifelt und ist wütend. Ihre Mutter möchte ihre Heimat hingegen nicht verlassen und hat sich mit dem Leben arrangiert. Der Mann schließlich kann sich als Hongkonger Bürger noch relativ frei zwischen Hong Kong und dem chinesischen Festland bewegen und agiert seit Jahren als Brücke zwischen Mutter und Tochter.

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LA FLOR von Mariano Llinás dauert 808 Minuten, ich konnte mir leider nur knapp 400 Minuten anschauen, was übersetzt in die Struktur des Films ungefähr 2,75 Episoden bedeutet. Doch eigentlich ist es ein Film, der in die Unendlichkeit strebt. Spielt hier eine Laufzeit überhaupt noch eine Rolle? Die Geschichte erstreckt sich über insgesamt sechs Episoden. Zumindest die ersten drei orientieren sich am Genrekino: Die Erste ist ein B-Movie, in dem eine Mumie Forscherinnen mit einer Art Tollwut infiziert. Die darauffolgende Geschichte erzählt von einer Sängerin und ihrem Bruch mit dem (Gesangs-)Partner, wobei dann jedoch finster blickende Gestalten auftauchen, die im Gift eines Skorpions den Schlüssel zu ewiger Jugend vermuten. Die dritte Episode ist schließlich eine Agentengeschichte, die sich in diverse Unterkapitel auffächert und in Argentinien, Brüssel, Berlin und London spielt. In jeder Geschichte sind es die vier gleichen Schauspielerinnen (Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa, Laura Paredes). Wie sie von Episode zu Episode in unterschiedenen Rollen erscheinen, zum Beispiel von der konzentrierten Forscherin zur finsteren Gangsterin und dann in eine toughe Agentin, das ist schlicht großartig. Überhaupt gibt es viel zu bewundern in diesen drei Episoden, die große Aufrichtigkeit etwa, fern jeglicher postmoderner Dekonstruktion, mit der Elemente des Unterhaltungskinos auftauchen und dann wieder verschwinden oder die erfrischende Unerschrockenheit vermeintliche Fehler oder Mängel einfach stehen zu lassen. Sehr gerne hätte ich weiter geschaut.

Hannes Brühwiler