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Jürgen Böttcher, der im Juli 2011 80 Jahre alt wird, ist der bekannteste Dokumentarist der untergegangenen DDR. Seine über 40 meist kurzen Filme, sind ruhige, genaue und geduldige Beobachtungen von Arbeitsprozessen und vom Leben in Ostdeutschland.
Sein Film „Stars“ (1963) über Arbeiterinnen in einem Glühlampenwerk, wurde beim Dokumentarfilmfest in Leipzig von Chris Marker, der selbst mit „Le joli mai“ den Hauptpreis gewonnen hatte, öffentlich geehrt. Beispielhaft ist auch „Rangierer“ (1984). Ein Film über Arbeiter, die im Schnee tonnenschwere Zugwaggons in die richtige Reihenfolge bringen. Eine Choreographie in kalter Luft über Eisen und Stahl. Böttcher drehte auch viele Auftragsarbeiten für das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, die heute nicht mehr aufgeführt werden, obwohl es besonders interessant wäre zu sehen wie ein beim volkseigenen Studio (DEFA) angestellter Filmregisseur arbeiten konnte und musste.
Der letzte Film dieser Ära ist der lange Dokumentarfilm „Die Mauer“ (1991) in dem Böttcher den Abbau der Berliner Mauer filmt. Wie werden die Mauerteile zerteilt? Wer steht auf beiden Seiten? Wohin werden die Mauerteile verladen? Der Film wirkt wie eine fassungslose Beobachtung der Machtinstrumente, die so lange sein Leben geprägt haben. Ein Film, den sich die anschauen können, die mit einer Bockwurst in der Hand gemütlich durch das Brandenburger Tor spazieren können, das bis zum November 1989 eine Hochsicherheitszone und tödliche Staatsgrenze war.
Unmittelbar nach dem Fall der Mauer beteiligte sich Jürgen Böttcher im Januar 1990 an der einzigen Ausstellung über die Kunst der DDR in den Hallen von La Villette / Paris (L’autre Allemagne – hors les murs) über die auch Film von Gerd Kroske existiert . Böttcher, der in Dresden zunächst Kunst studiert hatte, nahm die Malerei wieder auf, die ihm mit dem Ausschluss aus dem Verbund der bildenden Künstler 1961 offiziell verboten worden war.
Als Maler trägt er das Pseudonym Strawalde, das die Wälder seiner Heimat Oberlausitz anklingen lässt. Sein Credo im Schaffensprozess eines Bildes zu finden was man noch nicht wusste, steckt ihm bis heute im Blut. Als ich 2009 mit ihm in Ljubljana auf dem Filmfest zu Besuch war und man uns dort gemeinsam zum Fall der Mauer befragte- mit dem ich als westdeutsche Studentin in Paris damals nichts zu tun hatte- packte er nachts, als auf den Straßen wild jubelnde Menschen den Sieg Sloweniens gegen Russland bei der Qualifikation der Fußball WM feierten, seine kleine DV-Kamera aus, um, Zigarre im Mundwinkel, die Jugend zu filmen. Aufmerksam und nimmermüde.
Das Instinktive und Musikalische von Böttchers Arbeitsweise ist besonders eindrucksvoll in seinem einzigen Spielfilm „Jahrgang 45“. Noch während des Rohschnitts wurde sein Film verboten. Böttcher bekam Hausverbot für das Spielfilmstudio bis zum Ende der DDR. Auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 wurden neben Böttchers Spielfilm zahlreiche andere große Filme wie „Das Kaninchen bin ich“ von Kurt Maetzig, „Die Spur der Steine“ von Frank Beyer oder Theaterstücke wie „Der Bau“ von Heiner Müller verboten. Und was ging dabei über 25 Jahre verloren! Jürgen Böttchers „Jahrgang 45“ ist eng verwandt mit „Katzelmacher“ (1969) von Rainer Werner Fassbinder und zur „Zur Sache Schätzchen“ (1968) von May Spils, die westdeutschen Pendants über junge Wilden dieser Zeit. Gemeinsam besitzen sie eine Unbedingtheit und Freiheit im Ausdruck, die bei Fassbinder schon desillusioniert und bei May Spils klamaukig ist.

Böttchers Film ist reine Musik auf der Basis von dokumentarischem Beobachten: Sein junges Paar lebt im Berliner Prenzlauer Berg und steht vor der Scheidung. Al (Rolf Römer), der Automechaniker, hat ein paar Tage frei und nervt seine Freundin Li (Monika Hildebrand), die auf die Kinderstation zur Arbeit gehen muss. Al schlendert durch den Tag, offenes Hemd, verspielt, sinnlich, nachlässig und überhaupt nicht dem Arbeiterbild der DDR angepasst. Er frühstückt mit seinem alten Nachbarn, dem sanften und zerstreuten Mogul, bestärkt ihn beim Mucki-Training. «Ick wees ja nich wat du hast. Is doch jut!» meint er, als der andere schummelt: «Ist doch nur wichtig dass du trainierst». Sie hören im Radio ein Liebeslied (gesungen von Eva-Maria Hagen) und werden melancholisch. Al testet seine Pläne: zurück in den Keller, der ihr Kumpelnest war, andere Mädchen anmachen, fette Zigarren rauchen. Er denkt nach. Ein Mädchen schön wie die Bardot kommt ihn besuchen… ist das sein neues Leben? Er nimmt sich alle Zeit der Welt. Wen liebt er? Er kündigt die Scheidung seiner Mutter an, isst sein Lieblingsdessert zu Hause: «Li hat mir nie Pudding gekocht», sagt er. «Hast du ihr denn gesagt, dass du den magst?», fragt seine Mutter. «Nein, sagt Al, das hätte sie doch erraten müssen.» Der Richter gibt ihnen sechs Woche Bedenkzeit für die Scheidung. Jürgen Böttcher und sein Kameramann Roland Gräf fangen die Zeit ein, erzählen wie das Paar diese Sache namens Liebe zurück findet: Momente der Freiheit zu teilen. Und wie sexy sind freie Leute! Da gibt es viel zu lernen für heute.

Saskia Walker für Cahiers du Cinéma, März 2011
Am 23. März 2011 haben wir in unserer Carte Blanche im Goethe-Institut Paris Jürgen Böttchers Spielfilm JAHRGANG 45 gezeigt. Unsere Reihe geht mit BÜBCHEN von Roland Klick (27. Mai) und PAUL von Klaus Lemke (24. Juni) weiter. Nach diesem letzten Film vor der Sommerpause laden wir am abend zur REVOLVER-PARTY PARIS. DJ: Filmemacher Serge Bozon (LA FRANCE).

(Eingestellt von Saskia)