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REVOLVER 14 
 

Im April vergangenen Jahres widmete das Dokumentarfilmfestival
Visions du Réel im schweizerischen Nyon eines seiner Ateliers einem Filmemacher, dessen Arbeit mir sehr am Herzen liegt. Es handelt sich um Apichatpong Weerasethakul, einen
1970 geborenen Thailänder, der nicht nur fürs Kino, sondern auch
als Videokünstler arbeitet, sich also im Grenzbereich von Kunst und Kino
bewegt. Im Vorjahr, im Frühling 2004, lief sein Film „Tropical Malady“ im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes; es
gelang mir damals, einen Interviewtermin mit dem Regisseur zu bekommen, und
seither suchte ich nach einer Gelegenheit, diese Begegnung und meine Faszination
für Weerasethakuls Filme in einem Zeitungstext wiederzugeben. Weil der
Abdruck eines solchen Textes ohne Anlass in einer Tageszeitung unüblich
ist, kamen mir die Visions du R˛el gerade recht: Indem ich auf die Schweizer
Werkschau verwies, konnte ich das Porträt Weerasethakuls in der Zeitung
platzieren. Einige Monate später fand ein kleiner deutscher Verleih den
Mut, „Tropical Malady“ in die Kinos zu bringen. Eine glückliche
Geschichte mithin, an deren Rand sich jedoch eine nicht ganz so glückliche
Petitesse zutrug. Was nämlich nicht gelang, war, mit einer Ankündigung
auf der Seite eins auf das Porträt im Feuilleton hinzuweisen. „Warum
nicht?“ wollte ich vom zuständigen Redakteur wissen. „Den
kennt doch keine Sau“, antwortete er. Wäre es um Steven Spielberg
oder um Peter Jackson gegangen, ein Hinweis auf Seite eins hätte kein
Problem dargestellt. Bei einem unbekannten Regisseur ist das anders: Der wird
im Kulturteil einer Zeitung vielleicht eben noch geduldet, nicht aber auf
der ersten Seite. Da macht die „taz“ keine Ausnahme.

Ich erzähle diese kleine Anekdote, um zu veranschaulichen, dass Filmkritik
umso weniger Freunde hat, je weiter sie vom Pfad des Blockbuster-Kinos abweicht.
Das hat zu tun mit etwas, was man recht allgemein Strukturwandel der Öffentlichkeit
nennen kann – konkreter bedeutet es zum Beispiel, dass sich die Feuilletons
heute mehr als vor 20 Jahren an Ereignissen und Events ausrichten, an dem,
was ohnehin durch grossflächige Marketingmassnahmen präsent ist.
„Star Wars“, „Der Untergang“ und „München“
bündeln die Aufmerksamkeit, und wenn in diesen Wochen „Das Leben
der Anderen“ landauf, landab als erste valide filmische Auseinandersetzung
mit dem Thema Staatssicherheit gefeiert wird, erinnert sich schon niemand
mehr, dass es vor zwei Jahren einen ausgezeichnete Essayfilm zum selben Thema
gab: „Aus Liebe zum Volk“ von Eyal Sivan und Audrey Maurion. Gegen
das grosse Erzählkino mit den Stars und den schmachtenden Blicken kommt
ein Essayfilm nichtan, so klug er auch sein mag.

Zu dieser Kurzatmigkeit kommt ein Verschulden der Kritiker,
haben doch viele von ihnen gar keine Lust, sich auf unerschlossenes, unwegsames
Terrain zu begeben. Als etwa Vincent Gallos Roadmovie „The Brown Bunny“
2003 in der Zweistundenfassung im Wettbewerb von Cannes lief, waren die Reaktionen
der Kritiker schon während der Pressevorführung vernichtend, und
als Romuald Karmakar im Folgejahr sein Kammerspiel „Die Nacht singt ihre
Lieder“ im Wettbewerb der Berlinale vorstellte, ereilte ihn dasselbe
Schicksal: Unflätige, empörte, tuschelnde, johlende, buhende Filmjournalisten
wollten partout nicht bis zum Abspann warten, um ihr Unverständnis zu
äussern. Es ist derselbe Reflex, den Roland Barthes vor knapp 50 Jahren
in seiner Notiz „Stumme und blinde Kritik“ beschrieb: „In Wahrheit
ist jeder Vorbehalt gegenüber der Bildung Ausdruck einer terroristischen
Position. Den Beruf eines Kritikers ausüben und verkünden, dass
man nichts vom Existentialismus oder Marxismus verstehe (denn durch eine ausdrückliche
Feststellung sind es insbesondere  diese beiden Philosophien, von denen man
sagt, dass man sie nicht begreife), heisst seine eigene Blindheit oder seine
eigene Stummheit als universale Regel der Wahrnehmung aufstellen, heisst den
Marxismus und den Existentialismus aus der Welt verbannen: „Ich verstehe
es nicht, also seid ihr dumm.'“ Ersetzen Sie Existentialismus durch nicht-narrative
Filmlogik, Marxismus durch theaternahe mise en scene, und Sie können Barthes‘ Text als Analyse gegenwärtiger
Borniertheiten begreifen.


Es ist dies eine seltsame Tendenz, und sie erstaunt mich umso
mehr, als das Kino für mich  ein
privilegierter Ort der Fremderfahrung ist. Ins Kino zu gehen und Unvertrautes
zu sehen, gehört für mich untrennbar zusammen. Auf der Leinwand
vergrössert sich die Welt, vervielfältigen sich die Genüsse
und Erkenntnismöglichkeiten. Mag die Verwandtschaft von Kino und Reisen
ein wenig überstrapaziert sein, mag man sich, sobald man sie anführt,
in den zu grossen Fussspuren Serge Daneys bewegen, wirksam und aufschlussreich
ist diese Analogie dennoch, insofern beides, das Kino wie die Reise, Unvorhergesehenes
mit sich bringt, insofern beides überfordert, die Sinne anregt und anstrengt,
vielleicht überanstrengt, aber zugleich Neugier entfacht, das Denken
und die Wahrnehmung herausfordert. Ich habe so vieles im Kino zu sehen und
zu verstehen gelernt, Dinge, die ich um keinen Preis missen möchte, weil
sie zu meiner ˛ducation sentimentale wie zur Schulung meiner Wahrnehmung beitrugen:
wie der Schimmel in Georges Franjus „Le sang des b°tes“ in die Knie
geht, nachdem der Schlachter ihm die Kugel verpasst hat; wie in Jean Rouchs
„Les maÓtres fous“ die westafrikanischen Wanderarbeiter sich versammeln,
um in der Trance, im religiösen Ritual mit den Erfahrungen von Kolonisierung
und Modernisierung umzugehen; wie in Chantal Akermans „De l’autre cªt˛“
die mexikanischen Flüchtlinge als weisse Schemen über die Grenze
in die USA ziehen; wie die Bäuerinnen in Lav Diaz‘ „Evolution of
a Filipino Family“ die Büffel in endlosen Plansequenzen durch das
Bild treiben; wie Volker Spengler in der Rolle der transsexuellen Elvira in
Rainer Werner Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“ durch ein
kaltes Frankfurt irrt; wie der Tiger in Apichatpong Weerasethakuls „Tropical
Malady“ von der Leinwand hinunterblickt; wie … Die Liste könnte
ewig so weiter gehen. Und statt sich all diesem Reichtum anheimzugeben, wollen
alle immer nur „Star Wars“?

In den USA, klagt die Kritikerin und Kuratorin B. Ruby Rich,
reicht dies so weit, dass ausländische Filme ein trauriges Schattendasein
fristen. Die grosse Mehrheit der US-Amerikaner guckt sie nicht. Den Grund
dafür sieht Rich weniger in der Faulheit, Untertitel und Bild gleichzeitig
zu verfolgen, sondern in einer verhängnisvollen Einsprachigkeit: „Monolingualism
posits a monocultural world, one where „our‘ values are not merely dominant
but genuinely shared and undisputed. A childlike
image of the world, it is an image of the self unwounded by the other, a self
uninformed by the other, oblivious to its status, inured to its needs, cozy
in a cocoon of what once upon a time was called ethnocentrism and now, borrowing
a term from queer studies in order to change it, might be known instead as
imperial normativity.“ Wer seine Weltanschaung nie mit etwas
konfrontiert, was ausserhalb davon liegt, kapselt sich ein; wer seine Wahrnehmung
nie mit der Wahrnehmung eines Gegenübers abgleicht, regrediert. Was bleibt,
ist das narzisstische Vergnügen, sich nichts Neuem auszusetzen.

Der in Chicago lebende Kritiker Jonathan Rosenbaum beschreibt
in seiner Streitschrift „Movie Wars. How Hollywood and the Media Limit
What Movies We Can See“ die Kehrseite zu dem von Rich konstatierten Mangel:
den Überfluss an Filmen, die trotz ihrer Mässigkeit ein grosses
Echo in der Presse finden. Filmkritik und Filmmarketing, so Rosenbaum, seien
im Begriff, ineinander überzugehen. Wo Drehberichte und Porträts
von Regisseuren oder Stars die Filmberichterstattung beherrschen, rückt
das kritische Urteil in den Hintergrund, und zugleich verhält sich der
Marketingetat einer Filmproduktion proportional zur Aufmerksamkeit, die ihr
gezollt wird. Wenn es an der Tagesordnung ist, Filmjournalisten auf Kosten
der Produktionsfirmen an Drehorte oder zum Interviewtermin reisen zu lassen,
gehört die Unabhängigkeit des Kritikers der Vergangenheit an. Rosenbaum
notiert: „This isn’t to say that critics aren’t free to express their
dislike for certain expensive studio productions; what they aren’t free to
do, in most cases, is to ignore these releases entirely or focus too much
of their attention on films whose advertising budgets automatically make them
marginal in relation to the mainstream media.“ Schwer hat es,
wer vor diesem Hintergrund seine filmästhetischen und filmgeschichtlichen
Vorlieben pflegen möchte. Die Nonchalance, über einen schlechten
Neustart hinwegzugehen, muss man sich genauso wie den Einsatz für Experimentelles,
Sperriges leisten können – Schmuggler muss man werden.

Ganz so weit ist es hier noch nicht. Richs These etwa lässt
sich allein schon deshalb nicht umstandslos auf die Situation hier übertragen,
weil wir an US-amerikanische Filme gewöhnt sind und dadurch eine Fremderfahrung
als Alltagserfahrung geniessen. Unsere Kinoerfahrung ist mithin immer schon
zweisprachig. Es geht mir auch nicht darum, das europäische Kino gegen
die Hegemonie Hollywoods stark zu machen – das hat das europäische
Kino umso weniger verdient, je tiefer es im Arthouse-Einerlei versinkt. Es
ist auch nicht so, dass man in den hiesigen Zeitungen keine Rezensionen zu
„Tropical Malady“ lesen könnte, sobald der Film ins Kino kommt.
Das Problem ist eher, dass es viele Filme wie „Tropical Malady“
gibt, die nie ins Kino kommen, und dass der Raum zur filmkritischen Reflexion
jenseits der Neustarts knapp bemessen ist. Da Neustarts meist das Erzählkino
privilegieren und damit eine Filmkritik hervorbringen, die sich dem Psychologisieren
und dem Nacherzählen verschreibt, entsteht die Monokultur, die mich betrübt.
Durch den Hang zum Event im Medien- und Kulturbetrieb wird diese Entwicklung
hin zur Einförmigkeit vorangetrieben.


Dagegen, denke ich, sollte eine Filmkritik, die auf sich hält,
sich wehren. Ohne heroischen Avantgardegestus, ohne Besserwisserei und Sektiererei,
dafür mit Beharrlichkeit und vor allem mit Leidenschaft, Neugier und
Offenheit. Umso erfreulicher, dass die Filmkritik in Gestalt der DVD-Kritik
eine kleine Schwester bekommen hat. Wenn diese den Reichtum von Filmgeschichte
und –gegenwart wachhält, spürt hoffentlich auch jene den Drang,
mehr wagen und wissen zu wollen.

Prägende Lektüre für Cristina Nord / Literaturempfehlungen:

Roland Barthes: „Stumme und blinde Kritik“, in: R.
B.: Mythen des Alltags, Frankfurt/ Main, edition suhrkamp, 2003, S. 33-35.

B. Ruby Rich: „To Read
or not to Read: Subtitles, Trailers, and Monolingualism“, in Atom Egoyan,
Ian Balfour (ed.): „Subtitles. On the Foreignness of Film“, Massachusetts
Institute of Technology Press, Cambridge, London, 2004, S. 153-169.

Jonathan Rosenbaum: „Movie
Wars. How Hollywood and the Media Limit What Movies We Can See“, A Cappella
Books, Chicago, 2000.