Unser Heft 50 ist gerade frisch aus der Druckerei eingetroffen. Darin auch das Interview mit Sohrab Shahid Saless von 1977 "Stilles Leben in der Fremde", wiederabgedruckt im dreibändigen Werk "Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless. Annäherungen an ein Leben und Werk" von Behrang Samsami. Am 28. Juni 2024 wäre Saless achtzig geworden. Ein Gastbeitrag zum Anlass.
Stephanie von Hayek
Was uns an dem heutigen Abend interessiert, ist wie in der ARTE-Serie „In Therapie“ die Psychoanalyse auf die Bühne gebracht wurde. Was hat Sie so interessiert an der Psychoanalyse, Éric Tolédano?
Éric Tolédano
Es gab eine Leidenschaft für die Psychoanalyse, aber auch für den Film, die Lust, eine Kamera, an einem Ort aufzustellen, wo man das nicht darf, in einer psychoanalytischen Praxis. Es gibt heute überall in der Welt eine Fülle von Serien mit allen möglichen Gefühlen und Aktionen, aber ein besonders Interesse galt dem intimen Raum. Was geschieht im Inneren dessen, was die Menschen beschäftigt? Was uns als Filmleute besonders interessiert, seitdem es das Kino gibt, ist das, was wir Schuss-Gegenschuss nennen, das heißt eine Person darzustellen und den Kontrapunkt dazu. Es war eine herausragende Herausforderung, die ganze Geschichte in diesem Schuss-Gegenschuss darzustellen. Man könnte sagen, das Wesen selbst des Films ist es, was zwischen zwei Personen geschieht. Wir dachten, um ehrlich zu sein, wenn wir von Ödipus und anderem sprechen, werden die Leute vielleicht einschlafen. Wir haben nie geahnt, wie spannend es sein könnte und wie viele Menschen das mit großer Spannung verfolgt haben.
Stephanie von Hayek
Was schien Ihnen wichtig zu erzählen und als Erfahrung weiterzugeben und zu präzisieren als Cinéaste und als Psychoanalytiker/Therapeut?
Éric Tolédano
Die Originalserie stammt aus Israel. Der Satz von Hagai Levi ist uns wichtig gewesen bei dem Bemühen, den Puls einer Gesellschaft zu erfassen und möglichst genau an den Gesichtern der Menschen abzulesen, was mit der Gesellschaft passiert, und zwar: Die Brüche der Menschen sind auch die Brüche der Gesellschaft. Dieser Gedanke war schon lange vorhanden, wurde aber virulent nach den Attentaten im November 2015 in Frankreich. Wir erlebten eine Zeit, in der alle Menschen, Junge und Alte, von diesen Ereignissen sprachen, aber es war, als ob das Wort nicht freigegeben, nicht frei war, und das Bedürfnis war, einen Ausdruck für das zu finden, was geschehen war und das in Worte zu fassen. Die Berufung der Serie war, diese Ereignisse zu artikulieren.
Stephanie von Hayek
Monsieur Hefez wollen Sie vielleicht ergänzen, denn Sie haben als Berater und Experte die Serie begleitet?
Serge Hefez
Ich habe die zweite Staffel begleitet. Die erste Staffel hatte mich begeistert. Ich fand sie sehr gelungen. Und mein geheimer Traum war, in dieser Serie mitzuarbeiten. Eines Tages sagte mir eine Patientin als sie meine Praxis verließ: Ich habe verstanden, dass Sie Doktor Dayan sind, denn sie sind wie er gekleidet und sie sprechen wie er.
Stephanie von Hayek
Das war also ein Kompliment.
Serge Hefez
Ich habe es als großes Kompliment verstanden. Am selben Abend rief mich Éric Tolédano, den ich nicht kannte an, um mich zu fragen, ob ich mit ihm arbeiten wolle. Da leuchtete plötzlich ein großer Stern über meinem Kopf. Man kann nicht sagen, dass man Analysanten in einer Sitzung zeigt. Die Analysesitzungen finden nicht ganz so statt, wie man sie da sieht. Was man dagegen zeigt, ist die Arbeit eines Analytikers in seinem Denken und mit seinen Patienten. Das sind Dinge, die fesselnd sind: Unausgeglichene Patienten, da ist ein Kind, dem es schlecht geht, es gibt einen Übergang zum Akt. Dayan führt die Dinge immer wieder zur psychischen Realität zurück, insofern ist er Analytiker. Er stellt die Beziehung zwischen der konkreten Realität her, den Ereignissen und der psychischen Realität. Er gibt keine Ratschläge, er unterstützt das Ich seiner Patienten nicht, zeigt aber die unbewusste Dynamik auf, die hinter dem, was sie bewegt, liegt.
Stéphane Habib
Serge Hefez hatte viel Glück, denn mir sagte man oft: Philippe Dayan hätte das nicht gesagt. Es war ein interessanter Effekt der Serie in den Praxen der Psychoanalytiker. Sie widerlegt Freud und bestätigt ihn. Freud war dagegen, die Psychoanalyse in Bildern umzusetzen. Er war immer der Meinung und lehnte es deshalb auch ab, Filme über die Psychoanalyse zu machen. Er sagte, dass die Psychoanalyse und das Unbewusste nicht darstellbar sind. Die Serie gibt Freud Unrecht und auch recht. Auch, wenn es stimmt, dass das Unbewusste nicht repräsentierbar ist, ist es dennoch da, nur ist ihm niemand je begegnet. Jeder aber stößt auf das Unbewusste im Stolpern des Lebens und dessen, was er erfährt. Das ist das große Gelingen der Serie, das zu zeigen.
Stephanie von Hayek
Wie waren die Diskussionen und die künstlerischen Entscheidungen, um das Unbewusste darzustellen? Wie haben Sie es auftauchen lassen?
Eric Tolédano
Das setzt das voraus, was ich vorhin sagte, den Schuss-Gegenschuss. Das ist eine Schwierigkeit des Films als Kunst, dieser groß plakatierten Kunst. Man kann mit dieser Kunst schummeln, man kann hinsichtlich der Darstellbarkeit der Zeit schummeln, man kann mit der Zeit willkürlich umgehen. Man filmt die beiden Personen natürlich nicht zur gleichen Zeit, der eine spricht, der andere hört zu. Beim Schnitt können Sie dann Sekunden hinzufügen und eine Realität zwischen Psy und Patient schaffen, die gar nicht geschah als man drehte. Durch den Schnitt fügen sie etwas zusammen, das bei der Aufnahme nicht vorhanden war. Sie haben vorher den Film zitiert, Ziemlich beste Freunde, das ist das Einzige, was ich auf Deutsch zu sagen weiß, eine Komödie. Sie haben eine fundamentale Gemeinsamkeit, die Genauigkeit der Zeit. Sie haben die Möglichkeit der Verschiebung der Zeit, das heißt, wenn Sie um eine Zehntelsekunde bei diesem Schuss-Gegenschuss verschieben, lachen die Leute vielleicht, eine Zehntelsekunde früher haben sie den Effekt der Komödie und die Leute lachen. So ähnlich ist es auch mit In Therapie, wo es genau darauf ankam, wie sich die Zeit organsiert und verschiebt. Da taucht das Unbewusste auf, von dem wir sprechen, ein Wettkampf mit der Zeit, das heißt beim Schnitt entscheiden Sie, an einem Moment, wenn die Dinge von einem zum anderen Gesicht wandern. In der Zusammenarbeit mit großen Filmleuten wie Arnaud Desplechin und Emmanuel Bercot, ging es um solche Entscheidungen, wie viel Zeitverschiebung man bei der Aufnahme des einen Gesichts und des anderen Gesichts hat, um dann beim Schnitt, Effekte zu erreichen. Was bedeutet eine halbe Sekunde damit man den Eindruck hat, dass das Unbewusste sichtbarer wird. Um abzuschließen, die Einfachheit der Sitzung ergibt sich aus der Einfachheit der Aufnahme. Es ist keine Kamera, die sich viel bewegt, sondern es sind Großaufnahmen auf das Gesicht, das Gesicht spricht (Emmanuel Levinas).
Stéphane Habib
Da Éric von Philosophie sprach, spreche ich vom Kino. Was erstaunlich ist, dass es eine sehr enge Beziehung zwischen der Psychoanalyse und dem Schnitt gibt. Der Schnitt ist immer auch eine Arbeit der Montage und der Demontage, des Zusammen- und Auseinanderschneidens. Das ist das, was Lacan sagt: Eine Analyse besteht darin, durch Sprache etwas auseinanderzunehmen, was durch Sprache zusammengefügt wurde. Beim Schnitt geschieht das gleiche. Man schneidet Bilder und fügt sie in anderer Weise wieder zusammen. In der Analyse nennt man das die Skandierung oder die Punktierung.
Serge Hefez
Nach dem Philosophen und dem Cineasten, möchte ich als Psychoanalytiker sprechen. Ich bin kein Cineast, ich höre aber das Genie, und es erfreut mich. Meine Arbeit bestand darin, mit den Drehbuchautoren jede Replik zu bearbeiten, zu versuchen, den Ausdruck so zu formen, dass er der Psychoanalyse entspricht. Ich denke an ein Beispiel, das für mich sehr beredt ist. Es war mit Olivier Nakache direkt auf der Aufnahmebühne. Da war eine Szene mit dem übergewichtigen Kind Robin, die nicht funktionierte. Das Kind sollte zu seiner Mutter nach Brüssel und seine Analyse aufhören. Man sah, dass es ihm schlecht ging, es traurig war. Im Drehbuch stand, dass Dayan ihm sagte: Ich sehe du bist traurig, weil du mich verlassen willst. Und ich schlug Olivier vor, Dayan sollte eher sagen: Du hast Angst, dass ich traurig sein werde, weil du gehst. Es ist also ein Übergang von einer Realität, in der wir ein Kind haben, das traurig ist, weil es von seinem Vater, also von Dayan in dem Fall getrennt wurde. Das ist eine transferentielle Dimension, von der psychischen Realität zu einer Realität der Übertragung.
Bernhard Schwaiger
Ich wollte mal die Frage stellen nach dem Namen Lacan. Es hat uns natürlich sehr gefreut, dass der Name Lacan im Zusammenhang mit der Psychoanalyse und Psychotherapie auch in Deutschland mal fällt. Wie haben die Lacanschen Psychoanalytiker in Frankreich reagiert?
Serge Hefez
Ich bin vielleicht weniger Lacanianer als Stéphane Habib, aber nachdem, was ich hörte, waren die analytischen Kreise sehr geteilt. Manche haben direkt gesagt, das ist keine Psychoanalyse, so kann man Psychoanalyse nicht zeigen. Das ist völlig daneben. Dann gab es diejenigen, die sagten, man zeigt einen Psychiater. Es ist wichtig zu sagen, dass Dayan Psychiater ist. Insofern fühle ich mich ihm sehr nahe. Auch ich bin Psychiater, wenn ich im Krankenhaus arbeite und der völlig eingenommen ist von der Psychiatrie. Ich glaube, viele haben genau das verstanden, dass Analytiker heute sein heißt, in einer Situation zu sein, die nicht gerade die einer Analyse ist.
Stéphane Habib
Ich kenne die Reaktionen der Lacanianer nicht so gut, da ich alle möglichen Schulen verlassen habe. Vielen fiel es schwer, den Unterschied zwischen Fiktion und Dokumentation zu machen. Die Serie erlaubte zu entdecken, was die Psychoanalyse ausmacht und was sehr vergessen war, und zwar, dass die Psychoanalyse eine Praxis der ständigen Erfindung sein muss, nicht die Wiederholung von Zitaten und Theorien oder die Nachahmungen von Lacan. Man erlebt Dayan, der sich in Situationen befindet, die wir alle kennen und die häufig vorkommen, aber die auch etwas haben, in denen Dayan wirklich gezwungen ist, etwas zu erfinden. Das zeigt sehr gut, was Freud sagte: Die Psychoanalyse beginnt neu mit jeder Analyse.
Stephanie von Hayek
Da wir gerade über Erfindungen sprechen, würde ich gerne nochmal auf die Idee zurückkommen: Könnte sich Dr. Dayan vorstellen, für einige Zeit eine Praxis in Berlin zu eröffnen?
Eric Tolédano
Das kann man durchaus ins Auge fassen. Der Pakt hat sehr gut funktioniert. Frédéric Pierrot, der ein sehr guter Theaterschauspieler ist und weit davon entfernt ist, Dr. Dayan zu sein, leidet sehr darunter, denn wenn er auf der Straße ist, wenden sich die Leute an ihn und wollen einen Termin verabreden.
Stephanie von Hayek
Deshalb hätte er in Berlin vielleicht ein wenig Ruhe.
Eric Tolédano
Ich verspreche, ihm die Frage zu stellen.
Stephanie von Hayek
In der Tat haben wir darüber nachgedacht, warum es keine deutsche Adaptation gibt. Und vielleicht wissen Sie etwas darüber?
Eric Tolédano
Als wir Hagai Lévi, den Erfinder dieser Serie trafen, war das einer seine größten Frustrierungen, man muss wissen, es ist die Serie, die weltweit am stärksten adaptiert wurde, in 19 Ländern; er sagte uns, als wir ihn in Tel Aviv trafen: Die beiden Länder, die mir fehlen, sind Frankreich und Deutschland. Wir haben ARTE gewählt, das war nicht die schlechteste Lösung. Das ist das Minimum, was ich dazu sagen kann.
Stephanie von Hayek
Ich hatte mir zu Beginn ja auch diese Frage gestellt und ganz schnell kam die Antwort, das können wir hier in Deutschland nicht machen, wir haben noch die Shoa im Hintergrund. Und dann war eigentlich kein Denken, kein Weiterdenken mehr möglich.
Bernhard Schwaiger
Ich würde vielleicht nicht so weit gehen, sondern an einem Detail festmachen, und zwar in der Übersetzung in der deutschen Synchronisation. In Frankreich wird immer vom „Psy“ gesprochen, das können Psychiater, Psychologen, Psychoanalytiker sein. In der Synchronisation gab es immer die Schwierigkeit, dies genau übersetzen zu wollen. Das war manchmal lustig, denn es gab Verwechslungen. Diese Leichtigkeit in Frankreich, vom Psy zu sprechen oder zum Psy zu gehen, stellt vielleicht eine geringere Hürde als in Deutschland dar.
Martine Gardeux
Wie hat das in den anderen 19 Versionen funktioniert?
Eric Tolédano
Bei diesen Adaptationen geht es nicht um Übersetzungen. Ich möchte ein Beispiel dafür geben: In den anglosächsischen Ländern und in Europa ist die Praxis der Psychoanalyse für gewöhnlich anders. Wir sprachen vorhin von dem Kind, Robin wird mit seinen Eltern von einem Psy empfangen. Serge Hefez, der unsere Referenz war, sagte: „Das könnt ihr nicht so filmen.“ Das Kind musste im Wesentlichen alleine sein mit dem Psy, das heißt die Mutter oder der Vater kamen manchmal hinzu, aber zum größten Teil war das Kind allein mit dem Analytiker. Wenn es eine Realität gibt, gibt es auch eine entsprechende Fiktion, es läge an den deutschen Autoren oder Analytikern, die Entsprechung zu finden für ihre Realität. Wenn es eine Realität gibt, existiert parallel dazu eine Fiktion, dafür muss man eine Entsprechung finden.
Serge Hefez
Ein Problem, das wir hatten, war sich loszulösen von dem Original. Lévi war allgegenwärtig. Ich hätte noch viele Ideen, wie man die Sache noch mehr französisieren könnte. Ich fand, dass in der ersten Staffel, die Frauen, die zur Therapie gingen, mehr israelischen als französischen Frauen ähnelten; das sind Frauen, die durch die Armee gegangen sind, kämpferische Frauen. In der zweiten Staffel begannen die Frauen mehr französischen Frauen in Therapie zu ähneln.
Eric Tolédano
Die Adaptation ist sehr frei. Als wir mit Serge Hefez sprachen für die zweite Staffel, war inzwischen Covid da und wir fragten uns, ob wir dies nun ganz neu adaptieren können. In der Originalserie gibt es das nicht.
Stephanie von Hayek
Könnten Sie Serge Hefez noch etwas erzählen, wie Sie die Serie begleitet haben, wie diese Arbeit war?
Serge Hefez
Es war viel intensiver, als ich mir das vorgestellt hatte. Es ging darum, die Drehbuchautoren vor, während und nach dem Machen der Serie zu begleiten. Wir mussten gemeinsam über die Personen nachdenken, wer waren sie, wer sind sie, was bewegt sie in ihrem Inneren. Dann mussten wir über die Wahrscheinlichkeit jeder Szene nachdenken, Satz für Satz. Die Drehbuchautoren waren großartig. Sie hatten alle ein Gespür für diese Sache, deshalb wurden sie eingeladen. Aber manchmal war es auch etwas komplizierter. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck ein Gruppentherapeut zu sein, als Spannungen auftraten zwischen Drehbuchautoren und anderen. Das waren Interventionen auf den verschiedensten Ebenen.
Eric Tolédano
Jeder Drehbuchautor hatte eine Person und in Gegenwart von Serge Hefez vertrat jeder seine Person. ES gab kompliziertere Figuren als andere und das führte dann zu entsprechenden Situationen.
Bernhard Schwaiger
Wir hätten noch die Frage, wie die Serie eventuell die Praxis verändert hat in Frankreich? Und vielleicht sogar die Stellung der Psychoanalyse
Serge Hefez
Ich bin mir nicht sicher, ob das auf der Ebenen der Professionellen etwas verändert hat. Aber für die Öffentlichkeit hat das den Platz des Therapeuten, des Psychoanalytikers entmystifiziert und entdramatisiert. Dieser Dayan wurde ständig auf der Straße angesprochen, man bat ihm um Rat. Das große Publikum hat den Analytiker nicht mehr als eine Person betrachtet, die kalt ist und sich in ihrem Wissen vergräbt, sondern als jemanden, der bedingungslos auf ihrer Seite steht, auch wenn diese Seite widersprüchlich ist, da komplex. Es gab auch ein wesentliches Ansteigen der Nachfrage nach Psychotherapie zu einer Zeit, da die Therapeuten nirgendwo mehr einen Platz finden, um Patienten zu empfangen.
Stéphane Habib
Es hat sicherlich nicht die psychoanalytische Praxis als solche verändert, aber zu einer Demokratisierung der Nachfrage geführt. Es hat, was mir als ganz wesentlich erscheint, was man vielleicht sogar vergessen hatte, die Bindung zwischen dem Einzelnen, Individuellen und Kollektiven gezeigt, das heißt, dass ein Analysant, der zu einem Analytiker kommt, immer auch eine Version der sozialen Beziehung ist. Das hat das Vorurteil vom Elfenbeinturm des Psychoanalytikers zerstört, und es hat gezeigt, dass der Analytiker in der Politik ist. Ich glaube, die beiden Staffeln der Serie mit zwei sehr verschiedenen Ereignissen hat gezeigt, dass die Psychoanalyse auch eine theoretische Macht ist, die das Politische trägt, und dass das Politische auf die Analyse rückwirkt.
Publikum:
Michael Wagner
Ich möchte anmerken, dass die Serie „En Thérapie“ und nicht „En Psychanalyse“ heißt. Es geht darum, dass jemand in einen kleinen, geschützten Rahmen geht und ein Gegenüber hat, zu dem er spricht, was nicht unbedingt der Praxis der Psychoanalyse entspricht.
Serge Hefez
Ja, das scheint mir sehr wichtig zu sein, aber wenn man von Therapie spricht, ist das ein so allgemeiner und weiter Begriff – es ist nicht das gleiche, ob man ein Therapeut ist, der von der Psychoanalyse bewegt wird, oder ein Therapeut, der von anderen Richtungen beeinflusst wird. Das ist – glaube ich – in der Serie sehr wahrnehmbar.
Teilnehmer
Nach meinem Eindruck war es die besondere Leistung der Serie, dass sie einen Analytiker gezeigt hat, der in der ersten Staffel in eine schwere Krise gekommen ist und in der zweiten Staffel konnten wir Zuschauer verstehen, weshalb er in diese Krise geraten ist, und das fand ich außerordentlich wertvoll.
Eric Tolédano
Ja, das gehört wahrscheinlich auch mit zu dem Genie dieser Serie, die letzte Kontrollsitzung zu zeigen, damit zu zeigen, dass der Analytiker seine Schwächen hat, und dass damit die Vorstellung eines Elfenbeinturmes, in dem er eingeschlossen ist, zerstört wurde und Dayan somit eine große Sympathie entgegengebracht wurde.
Serge Hefez
Man sieht, ein Analytiker arbeitet nicht mit einem bestimmten Wissen, sondern geht von seinen eigenen Schwächen und Problemen aus. Die Stärke bei dieser zweiten Staffel, wo es um die Kontrollanalyse geht, ist auch zu zeigen, wie Schwächen auf beiden Seiten da sind, der Kontrollanalytikerin und des Analysanten. Wie Stéphane sagte, man erfindet stets neu in der Therapie.
Martine Gardeux
Ich habe diese Serie sehr gemocht und sehr gern gesehen und es hat mir erlaubt, mit Leuten über Analyse zu sprechen, mit denen ich sonst nie darüber sprach. Dayan hat in der zweiten Staffel das Phantasma eines Retters und das hat auf das Bild überhaupt der Serie abgefärbt, dass es darum ginge, die Analyse zu retten.
Benjamin Heisenberg
Inwiefern wurde die Kamera sozusagen als Analyse-Tool mitgedacht?
Eric Tolédano
Das Objektiv ist sehr auf die Person gerichtet. Wir haben in beiden Staffeln ein Experiment gemacht und wir haben es auch in den beiden Ankündigungsstreifen benutzt, nämlich dass die Personen direkt in die Kamera schauen. Das ist etwas, was eigentlich sonst im Film streng verboten ist, dass die Darsteller direkt in die Kamera schauen, eine Überschreitung aus der Fiktion und die den Zweifel sät hin zur Realität. Sehen Sie sich die Ankündigunsstreifen an. Die Personen schauen direkt in die Kamera und man hat dazu eine Off-Stimme, die kommentiert, was sie empfinden. Wir haben alles benutzt, was zur Verfügung stand, sowohl die Blicke, die Körper, um diese Wahrheit zu suchen und zu finden, die die Beziehung herstellt zwischen Fiktion und Realität.
Transkribiert nach der Videokonferenz der Freud-Lacan-Gesellschaft Berlin am 23.2.2023 von Stephanie von Hayek und Bernhard Schwaiger. Zugeschaltet aus Paris waren Éric Tolédano, Regisseur und Drehbuchautor, Serge Hefez, Psychiater, Psychoanalytiker, Kinder- und Jugendtherapeut, Stéphane Habib, Psychoanalytiker und Philosoph. Die Transkription folgt der konsekutiven Übersetzung von Vincent von Wroblewsky. Konzeption und Vorbereitung: Stephanie von Hayek und Bernhard Schwaiger.