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| Von Helena Wittmann |

Klein, dieser Raum ist sehr klein und man betritt ihn durch eine Tür, die nach innen aufgeht. Um sie wieder zu schließen, muss man ganz im Raum stehen, sich auf der Stelle umdrehen und sich schmal machen. Dann steht man im schmalen Gang vor einem zweistöckigen Etagenbett aus Holz und auch die Betten sind schmal, vielleicht siebzig Zentimeter, und kaum zwei Meter lang. Das einzige Fenster ist rund. An die Begrenztheit des Raumes haben wir uns längst gewöhnt, denn hier unten ist alles so: Die Türen sind niedrig, das Bad ist eng, die Treppenstufen klein und dicht beieinander. In einem Raum von neun Quadratmetern können in drei Etagenbetten sechs Personen schlafen. Wir sind nun schon einige Tage an Bord und für uns ist es ganz normal, dass wir uns auf der Stelle drehen, um Türen zu schließen. Und das Warten, um jemand anderen vorbei zu lassen, gehört zu den alltäglichen Gesten. 

Vor mir hat Vladimir den Raum betreten, dabei seinen oberen Rücken nach vorne gerollt und den Kopf gesenkt. Er ist sicher zwei Meter groß, er ist schlank, aber lang. Es ist schon Abend, draußen ist es dunkel. Vladimir legt sich in das obere Bett und dreht sich auf die Seite. Die Beine des Stativs werden so gut wie möglich den Gegebenheiten angepasst und finden Halt in Kanten und Ecken. Irgendwie schaffe ich es, mich hinter der Kamera zu positionieren und durch den Sucher zu schauen. Vladimirs Gesicht ist der Kamera zugewandt, wir sind nah beieinander, anders ist es gar nicht möglich. 

Es ist fünf Jahre her, dass ich die erste Nacht auf einem Segelschiff verbracht habe. Damals lag ich da und bin den Geräuschen nachgegangen, als könnte man sie einfangen. Diese Geräusche waren für mich neuartig und sie kamen aus allen erdenklichen Richtungen ganz nah an mich heran. Mein Körper bewegte sich mit dem Schiff, mit den Wellen und der Dünung. Und weil jedem Geräusch eine Bewegung zugrunde liegt und auf einem Schiff jede und jeder und alles dieser Bewegung ausgeliefert ist, ging mein Körper eben auch direkt mit den Geräuschen mit. Eine merkwürdige Verflechtung und Gemengelage, in der die Grenzen des eigenen Körpers nur noch schwer auszumachen waren. 

Im Drehbuch steht:


45 INT. SEGELYACHT KABINE – NACHT 

VLADIMIR liegt mit offenen Augen in der Dunkelheit seiner Koje. Aufmerksam lauscht er den Umgebungsgeräuschen.

Es sind tiefe, dröhnende Klänge, die sich durch den ganzen Schiffskörper schwingen und viele kleinere Geräusche, die sich kaum zuordnen lassen. Bei längerem Zuhören ergibt sich eine Klanglandschaft mit unzähligen Ebenen.

Jetzt ist es also Vladimir, der die erste Nacht im Bauch eines Schiffes erlebt, die erste Nacht auf dem offenen Meer. Die Regieanweisung ist sehr einfach: Zuhören. Vladimirs Augen sind geöffnet, richten sich von Anfang an eher nach innen als nach außen. Die Tür der Kabine ist geschlossen, wir sind zu dritt und verhalten uns sehr still. Aber auch alle anderen, die sich auf dem Schiff befinden, haben wir um Ruhe gebeten. Denn jedes Geräusch wird über den Schiffskörper weitergetragen und jetzt wollen wir nur das Meer und den Wind, und das Schiff im Meer und im Wind hören. Holz, Stahl, Segel. Wasser, Luft. Es ist allerhand, was hier miteinander in Bewegung gerät. Nur die Menschen an Bord halten für diesen Moment der Aufnahme inne. Ich höre meinen Atem, während ich Vladimir durch den Sucher beim Zuhören zusehe. Und ich denke, dass alle Anderen an Bord ebenso ihren Atem hören, während sie inne halten. Dass alle sechzehn Personen, die in diesem Moment auf dem Schiff sind, in einen ähnlichen Zustand geraten. Vielleicht schauen sie sich leise an, wenn sie gemeinsam an einem Tisch sitzen. Vielleicht werden die Blicke auch gesenkt, auf die Tischplatte. Oder sie richten sich in die Ferne, in die Dunkelheit über dem Meer. 

Und während Welle um Welle um Welle um Welle umschlägt, schaue ich weiter auf das Gesicht von Vladimir. Beide hören wir zu und schützen dabei die Ruhe, als wäre sie flüchtig und besonders wertvoll. Irgendwann verlieren seine Augenlider den Rhythmus der Augäpfel. Sie rollen nach oben und fallen ins Weiß. Das Wasser im Tank schlägt gegen die Stahlwanne. Das Schlagen ist laut, sehr laut. Das dunkle Braun der Iris rollt kurz wieder hinunter, und schiebt sich dann doch wieder nach oben unter die Lider, die die Augen niemals vollständig verschließen. Ein Geräusch von Tauen ist zu hören, auf Spannung, man hört die Kraft, die hier wirkt, der Ton zieht sich erst, dann eine Abfolge von Tönen, fast ein Knattern, dann ein neuer dumpfer Schlag im halbleeren Wassertank aus Stahl. Im Hören bewegen sich Vladimirs Augen in einem Schwebezustand, unkontrolliert, die weißen Flächen der Augen leuchten immer wieder auf. Ich weiß, dass er an Seekrankheit leidet, und er liefert sich dem Schiff auf dem Meer aus. Auch meinem Blick durch die Kamera, die einen halben Meter vor seinem Gesicht auf einem Stativ steht, liefert er sich aus. Und Alle an Bord des Schiffes halten inne. Alles konzentriert sich auf diese erste Nacht auf dem Schiff. Möge dieser Moment doch nicht so bald enden, denke ich. Die Konzentration, die Hingabe, dieses gemeinsam Erlebte, das Wiedererleben. Aber er wird enden, natürlich muss er enden. Wie lange wir hier unten schon sind und zuhören, weiß ich nicht. Ich könnte ewig schauen und ewig zuhören, denke ich. Aber ich kann nicht ewig filmen, weiß ich. Die Situation ist nicht für ewig haltbar. Ich schalte die Kamera aus. Dann ist in der Kabine eine Stimme zu hören. Nur ein einziges Wort, so wenig wie möglich, um die Auflösung des Zustands doch noch etwas aufzuhalten, ihm so lange wie möglich so nah wie möglich zu bleiben. Die Stimme: Ein leises Danke. 

Helena Wittmanns neuer Spielfilm HUMAN FLOWERS OF FLESH – die obige Skizze erzählt von der Entstehung des Films – wird in Locarno im Internationalen Wettbewerb Uraufführung feiern. Auf der Webseite des Festivals findet sich auch ein Interview sowie ein kleiner „Entstehungsfilm” mit Wittmann.

Im neuen Revolver (#46) schreibt Wittmann unter dem Titel „Beschwörungen” über Eric Rohmers „Das grüne Leuchten”.