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Wie berichtet hat Manfred Hermes ein Buch über Fassbinders BERLIN, ALEXANDERPLATZ geschrieben: „Deutschland hysterisieren” (b_books, Berlin). Endlich hatte ich Gelegenheit, es zu lesen.

Weder akademisch noch kommerziell motiviert, ohne Auftrag, schreibt Hermes aus Neigung, bemüht sich mit Zärtlichkeit und „Verstehen-Wollen” um seinen Gegenstand, was allzu selten ist in der deutschen Filmpublizistik. Dabei ist er nicht blind für die Defizite Fassbinders oder Döblins (und schon gar nicht für die Defizite des deutschen Films), überhaupt liegt ihm nichts an einer kanonischen Heiligsprechung, keine Zeile wird mit journalistischer Rahmung verschwendet, wir erfahren wenig über Produktionsbedingungen, nichts über Setskandale, etwaige autobiographische Spuren und dergleichen; er schreibt als Kritiker, der verstehen möchte, was die Tiefe, Welthaltigkeit und Wirkung der Serie ausmacht, welche ästhetische Strategien oder Praktiken Fassbinder und Döblin teilen, was sie trennt. Glücklicherweise läuft das aber nie auf ein krämerisches Abwägen von Schöpfungsanteilen hinaus, eher erscheinen Buch und Film in seiner Beschreibung verbunden wie Bett und Fluss, denn:

„Auch mit dem genauesten Beschreiben kann man sich der Feststellung nicht entziehen, dass vieles von dem, was über Fassbinders Film gesagt werden kann, genauso für das Buch von Döblin gilt.” (S.50) 

Was das Buch zu einer so fesselnden Lektüre macht, ist die Frage, wie der Film zum Werkzeug einer Weltschau werden kann, die das Wesentliche berührt, das heißt Fragen des Menschseins ebenso einschließt wie soziale, politische, metaphysische.

„Es reicht nicht aus, eine soziale Perspektive um ihrer selbst willen einzunehmen, auch soll man sich dem Sozialen nicht unter dem Gesichtspunkt ‚Elend der Welt‘ nähern. Die Wirklichkeit kann nicht nur von der materiellen Seite her oder durch Mimikry totaler Aktualität erfasst werden. Um die Realität also grundlegender ‚erzählen‘ zu können, ist es nötig, einen Raum der Mannigfaltigkeit zu schaffen, der sich aus Distanztypen wie Vertretung, bloßer Allgemeinheit und falscher Identität herauszuhalten versucht. Dazu muss ein tragfähiger Symbolismus gefunden werden, in dessen unmittelbarer Mittelbarkeit oder indirekter Freiheit man dann auch der Gewalt von Verhältnissen eine Anschaulichkeit geben kann, die sonst nur schwer abbildbar wäre.” (S.122)

Für Hermes liegt die Antwort (bei Fassbinder) letztlich im titelgebenden „Hysterisieren”, was sich übrigens nicht auf die Figurenkonstruktion allein beschränkt. Hysterie verstanden als eine Weltsicht, die Defizite, Widersprüche und Gewaltverhältnisse nicht in ein harmonisches Ganzes giessen kann, in der Brüche, Verletzungen, Störungen an die Oberfläche drängen und ‚dargestellt‘ werden, und zwar auf allen Ebenen. 

Ausserdem interessiert Hermes, warum das Fassbinder in BA und (einigen) anderen Filmen besser gelingt als den meisten anderen deutschen Filmemachern, heute Arbeitende ausdrücklich eingeschlossen. In einem „Supplement”, das mit „Dt. Miseren” überschrieben ist, setzt er sich kurz und scharf mit Tendenzen des deutschen Films heute auseinander, die er als „negative Rückseite für das, was (…) an Fassbinder interessiert” (S.197) empfindet.

„Man kann also behaupten, dass die von Helmut Kohl 1983 ausgerufene ‚geistig-moralische Wende‘, von der so oft behauptet wird, sie sei im Sande verlaufen, in Wirklichkeit höchst erfolgreich war.” (S.202)

In diesem Sinne sieht er übrigens auch in den Filmen der „Berliner Schule” Kohls Kinder am Werk, die sich „mehr oder weniger komfortabel in cinematographischer Schönschrift eingerichtet” hätten (S. 209). 

Kurz gesagt, ein im besten Sinne streitbares, gut lesbares Buch, das ich herzlich empfehlen kann.

Hier noch mal der Hinweis auf Hermes‘ Text über Aufgaben und Möglichkeiten der Filmkritik, der 2006 für Revolver entstanden ist. 

(Eingestellt von Christoph)