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ÜBER DIE ARBEIT AN ‚MORGEN DAS LEBEN‘
JUDITH AL BAKRI, ULRIKE ARNOLD UND JOCHEN STRODTHOFF IM GESPRÄCH

Der Münchner Regisseur Alexander Riedel (DRAUSSEN BLEIBEN) bezeichnet seinen neuen Film MORGEN DAS LEBEN als „dokumentarischen Spielfilm”. In nur gelegentlich verbundenen Episoden geht es um prekäre Arbeit in einer reichen Stadt – und um die Sehnsucht dreier Menschen um die vierzig, ihr Leben zu verändern. Die Hauptdarsteller, Judith Al Bakri, Ulrike Arnold und Jochen Strodthoff, mussten dabei ihre „Spielaufgaben” oft in unkontrollierten Situationen umsetzen, auf Augenhöhe mit „wirklichen” Menschen und Lebenswelten. Mit Interventionen dieser Art sucht der Film eine neue Balance zwischen Erzählung und Beobachtung. Der Film startet am 2.06.2011 in ausgewählten Kinos (Website).

Nach der Premiere auf dem Münchener Filmfest (2010 – Ensemblepreis Schauspiel) haben sich die drei Protagonisten zusammengesetzt, um sich über die Chancen und Konflikte dieser Arbeitsweise auszutauschen. Wir dokumentieren das Gespräch in Auszügen.

SICH AUSLIEFERN

Jochen Strodthoff: Wir haben uns ja während der Dreharbeiten kaum gesprochen, weil wir in drei verschiedenen Episoden gespielt haben und uns erst gegen Ende der Dreharbeiten vor der Kamera begegnet sind. Ich weiß noch, Ulrike, dass wir uns nur ein einziges Mal getroffen haben. Das war in der Kosmetikschule.

Ulrike Arnold: Genau. Ich hatte trotzdem das Gefühl, dass wir da sehr schnell auf die Sache zu sprechen kamen. In diesen zwei, drei Minuten, die wir Zeit hatten. Da ging der Austausch ganz schnell: Wie geht’s dir? Wie geht’s mir? Und wie schnell wir dann ähnliche Unsicherheiten ausgemacht haben.

JS: Ja, auch um abzuchecken, wo der andere gerade steht. Geht’s dir genauso wie mir? Oder geht’s dir etwa gut?

(alle lachen)

UA: Ging es dir nicht gut?

JS: Es ging mir schon gut bis zu dem Moment, als mir die Haare abgeschnitten wurden. Das fand ich furchtbar. Der Regisseur Alexander Riedel hatte für die Szene eine Friseurin aufgetrieben, die ich wirklich fies fand, und die mir vor laufender Kamera die Haare schneiden sollte. Da fühlte ich mich schon sehr ungeschützt. Gleichzeitig begann im Film mein Arbeitsleben im Versicherungsgeschäft, mein Gefühl hing also sicher auch damit zusammen.

UA: Anfangs hast du in einem Männerwohnheim gewohnt?

JS: Ja, bei mir begann es sehr intensiv in einem Männerwohnheim im Münchner Bahnhofsviertel. Das war deshalb intensiv, weil ich da bereits eine Woche vor Drehbeginn eingezogen bin. Mit dem Auftrag Leute kennen zu lernen. Alexander hatte bereits einen Kontakt hergestellt zu Jens, einem Bewohner des Nachbarzimmers, der jetzt gar nicht mehr soviel drin ist im Film. Mit dem habe ich oft Schach gespielt. Der konnte richtig gut spielen, weil er im Knast immer von Zellenwand zu Zellenwand gespielt hat.

UA: Wie sind die Bewohner des Männerwohnheims mit dem Filmteam umgegangen? Gab es da nicht Probleme?

JS: Es gab schon einige Konfliktsituationen. Jens sagte uns, wir können in dem Zimmer drehen und unser Kameramann Martin Farkas hatte beide Betten von den Fenstern weggerückt und etwas Licht oben in die Fensterrahmen gesetzt. Und nach diesem ersten Drehtag platzte plötzlich der Mitbewohner von Jens ins Zimmer. Er war auf hundertachtzig, weil er schon von der Straße aus die Lampen gesehen hatte. Er kam also rein und brüllte: Tu die Scheiße hier raus! Ich schmeiße jetzt die ganze Scheiße aus dem Fenster!

UA: Und ihr wolltet es noch hängen lassen bis zum nächsten Tag?

JS: Wir wollten es noch vier Tage hängen lassen! Es hat ja auch nicht wirklich gestört. Aber er hat das als massiven Eingriff in seine Intimsphäre betrachtet und deshalb war er stinksauer. Ich sagte ihm, dass ich das nicht machen werde und das hat er schließlich akzeptiert. Aber erst dachte ich, er schmeißt mich zusammen mit den Lampen zum Fenster raus.

UA: Das habt ihr ja in dem Film ganz gut einfangen. In dieser Situation, als bei dir noch ein zweites Bett reingestellt werden soll. Wenn dann bei dir die Grenze deiner Belastbarkeit erreicht ist.

JS: Genau diese Ausgesetztheit haben wir in dem Film dann so übernommen. Aber das ist ja auch eine menschenverachtende Situation: Die Stadt zahlt für die Unterbringung und die Besitzer hauen in jedes Zimmer soviel Betten rein, wie möglich.


FIGURENENTWICKLUNG

JS: Was mich interessieren würde ist, welche Grundthemen der Figur sind von euch gekommen? Welche eigenen Einflüsse hat es da gegeben? Schließlich haben sie die gleichen Namen wie wir: Judith, Ulrike, Jochen. Bei mir gab es eine Verknüpfung mit der Versicherungsecke, weil mein Vater Versicherungsvertreter war. Wir hatten sogar kurzzeitig überlegt, ob mein Vater nicht sogar mitspielen sollte. Aber wir haben das dann verworfen, weil er gar nicht in München wohnt, das hätte überhaupt keinen Sinn gemacht.

Judith Al Bakri: Aber das war doch eher ein Zufall, dass sich das bei dir so getroffen hat. Versicherungsvertreter, Kosmetikschülerinnen, Stewardessen, damit hast du erstmal so nichts zu tun. Das sind alles Welten, die nicht unsere Welten sind. Und trotzdem sind bei uns allen, dadurch, dass wir so zeitig in die Entwicklung mit einbezogen wurden, dass wir Szenen mitentwickelt haben, natürlich eigene Einflüsse eingeflossen. Auch die Frage, was ist meine Vorstellung von einer Stewardess? Was macht die Zuhause? Das war wichtig, um einen persönlichen Angelhaken auszuwerfen und zu sagen, da kann ich mich einklinken.

JS: Dazu muss man sagen, dass wir jeweils nur unsere eigene Episode kannten und mitentwickelten. Die anderen beiden Stränge bekamen wir auch als Drehbuch nie zu Gesicht, weshalb wir von der gegenseitigen Entwicklung kaum etwas mitbekommen haben. Wie seid ihr auf eure Figuren gekommen? Die Idee mit der Stewardess kam von Alexander, oder?

JA: Ja.

UA: Das waren so bestimmte Module, die er im Kopf hatte, die er zusammen mit der Koautorin Bettina Timm unbedingt erzählen wollte. Unter anderem den Münchner Missstand mit den Wohnungen und den horrenden Mietpreisen. Das war immer ein Thema, das von Anfang an auf dem Plan war. Und die Schwierigkeit, sich neu zu orientieren. Darüber ging unser erstes Gespräch. Wir haben auch mal eine Weile überlegt, ob wir die Figur noch viel näher an mich ranziehen sollten. Ob das im Theatermilieu spielen könnte. Und jemand versucht sich da umzuorientieren. Und da gab es auch Überlegungen, dass man es ganz dokumentarisch erzählt. Ich habe, obwohl oft herausgehoben wird wie authentisch unsere Spielweise ist, dann auch immer das Gefühl gehabt, ich spiele eine Figur. Es gab immer diesen Akt des Spielens.

JS: Bei mir gab es viele Momente, wo ich loslassen konnte.

UA: Aber integriert ins Spielen. Ich habe Dinge absolviert, getan. Ich habe beispielsweise jemanden massiert, das ist ja eine Handlung. Da kannst du nicht sagen, ich spiel das jetzt mal. Du versuchst das dann so gut wie möglich zu machen. Aber ich wusste, ich bin jetzt nicht Ulrike Arnold. Das war dann schon die Figur.

JA: Das war für mich sicherlich am extremsten. Da ich so gut wie keine dokumentarischen Situationen hatte, habe ich fast alles gespielt. Ich bin auch einen Tag vorher in die Filmwohnung gegangen, zum Übernachten. Aber das hat mir nicht wirklich was gebracht. Dokumentarisch gesehen. Ich fand es gut, die Möglichkeit zu haben, mir das anzueignen, aber im Grunde genommen hat mich das Dokumentarische kaum erreicht.

JS: Hast du deine Wohnung mitgestaltet? Ich konnte mein Zimmer im Wohnheim mit der Ausstatterin Renate Schmaderer zusammen einrichten.

JA: Ich habe schon versucht, mich da einzumischen. Ich habe ihr auch ein Paar Sachen mitgebracht von zuhause, auch Fotos und Bilder von unserem Sohn Nanouk, der in dem Film meinen Sohn Oskar spielt. Aber es gab auch viele Sachzwänge. Da hätte ich mich ganz anders einmischen müssen. Ich fand es ja gut, dass es eine andere Wohnung war, dass es nicht meine Wohnung war. Das war ja auch nicht ich. Ich war eben auch eine Figur. Irgendwo war es eine Figur und irgendwo durfte man das auch nicht merken. Dokumentarisch zu spielen heißt ja, dass du dich bemühst nicht zu spielen, sondern, dass du versuchst, ganz in der Situation zu sein. Alles, was nicht authentisch ist, kann man nicht verwenden.

JS: Mir ist das am meisten aufgefallen bei der Frage: Wie spiele ich mit meinen Partnern? Gerade weil wir fast nur mit Nicht-Schauspielern gespielt haben, habe ich mich viel stärker auf sie konzentriert und war immer ganz bei ihnen.

JA: Der Punkt von Authentizität, den ich meine, ist doch der, dass du gegen den Laien nicht abstinken darfst. Durch die Durchmischung von echten Leuten und Schauspielern, entsteht ja ein Stil, auf den man sich irgendwie einigt. Klar kann man spielen, volle Kanne, und ist deshalb mit seinen Gefühlen auch authentisch, aber man muss darauf achten, dass die Balance stimmt. Dass sich die Laien und Schauspieler nicht zu weit in der Spielweise unterscheiden. Das kann für beide blöd ausgehen. Dann können die Laien plötzlich brutal abfallen, oder wenn du als Schauspieler in so einem Film zuviel Gas gibst, dann gehst du auch unter.

UA: Ich habe mich sehr darauf konzentriert, eine Sprache zu finden. Diese Figur schwimmt sehr, ist unsicher, versucht alles richtig zu machen. Es ging also darum eine Sprache zu finden, die authentisch ist, ohne rumzustottern und dabei eine Verdichtung zu schaffen. Weil wir gemerkt haben, dass es ohne Verdichtung schnell langweilig wird. In diesem Fall haben wir angefangen, Texte zu bauen. Das waren dann Textteile, die ich im Kopf hatte und die habe ich benutzt zum Improvisieren.

JS: Mir ging das nicht so.

UA: Ich glaube, das Problem hattest du gar nicht. Vielleicht, weil du mehr mit einer Art Slang arbeitest.

JA: Das macht die Arbeit mit unserer Performancegruppe HUNGER&SEIDE, bei der das extrem gefordert ist. Wir arbeiten da seit einiger Zeit mit  ganz persönlichen Erzählebenen und sind es dadurch gewöhnt, mit unserer eigenen Sprache umzugehen.

JS: Meine Suche war eher thematisch. Ich habe mich immer gefragt, was ist das Thema, auf welchen Fokus muss ich mich jetzt konzentrieren?

UA: Bei mir wollte Alexander Feinheiten. Er hat dann schon gesagt, er möchte, dass dieses oder jenes Wort vorkommt. Er hat auch von meinen Partnern, den Darstellern ihrer selbst, eine genaue Arbeit in der Improvisation verlangt. Die dokumentarische Performancegruppe Rimini-Protokoll nennt diese Menschen Experten, weil der Besitzer einer Kosmetikschule ja ein Experte in der Darstellung eines Kosmetikschulenbesitzers ist.

CHRONOLOGIE

JA: Alexander hat sich insgesamt sehr darum bemüht, in der Chronologie der Geschichte zu drehen. Soweit es möglich war. Damit die Figur die ganze Entwicklung im Rücken hat. Erst dachte ich, ich bräuchte das nicht, aber auf der anderen Seite war es so, dass ich, ohne es groß zu merken, doch sehr hineinwuchs. Mich hat der Film auch hinterher lange nicht losgelassen. Während der Dreharbeiten hat sich mir die Figur erschlossen. Plötzlich habe ich ganz tief kapiert, wer diese Frau ist. Und das hat damit zu tun, dass man so reingeschlichen ist in die Geschichte.

UA: Das war bei mir anders. Was diese Art zu arbeiten für mich am meisten ausmachte war der Vorlauf. Ich hatte noch nie eine so große Sicherheit bei einem ersten Drehtag, wie bei diesem Film. Weil wir so lange darüber gesprochen haben und viele Proben hatten. Ich habe viel massiert und mich massieren lassen. Ich hatte eine große Sicherheit, in welche Richtung es geht. Vielleicht hatte ich auch deshalb von Anfang an das Gefühl, eine Figur zu spielen, einfach, weil das Terrain abgegrenzt war. Trotzdem haben wir uns natürlich auf die Unwägbarkeiten beim Drehen eingelassen. Aber der Akt des Spielens fiel mir leicht, weil wir uns lange vorbereitet hatten.

JA: Aber das ist genau das, was ich meine. Es war nicht so, dass mir das Spielen schwer gefallen ist, sondern, dass ich ab einem gewissen Zeitpunkt einfach diese Figur war. Dass mich das so emotional eingeholt hat, das fand ich extrem. Über die Chronologie hat es sich irgendwo hinbewegt. Man hätte auch unsere Schlussszene am Anfang drehen können, aber dann wäre auch der innere Abstand größer gewesen. Und Alexander hat alles versucht, damit der Abstand möglichst klein bleibt. Und dass man das Team vergisst. Ein Fahrer hat ja gedacht, ich wohne wirklich da.

UA: Ja, bei mir gab es einen Statisten, der hat gefragt, wer ist denn hier eigentlich die Hauptfigur? Und er hat dann auf eine der Kosmetikschülerinnen getippt. Einfach weil sie die Schönste war.

JS: Klar, Hauptfiguren müssen schön sein!

(alle lachen)

ARBEIT MIT EXPERTEN

JS: Was ich bemerkenswert fand, war, wie Alexander meine Begegnung mit Gottfried gelöst hat. Das ist der Versicherungsvertreter, bei dem ich im Laufe des Films zu arbeiten anfange. Unsere erste Begegnung im Film sollte das Bewerbungsgespräch sein. Alexander hatte zunächst vorgehabt, dass wir uns im Vorfeld gemeinsam treffen, um uns kennen zu lernen. Doch dann hat er entschieden, dass wir uns erst direkt vor laufender Kamera begegnen sollten. Kurz vor dem Dreh hatte er ihm meine Bewerbung gegeben und kam zu mir zurück und meinte, dass Gottfried mich so nicht nehmen würde. Dann bin ich in sein Büro und wir haben die Situation in einer Einstellung gedreht. Und ich habe wie ein Löwe darum gekämpft, dass er mich nimmt. Ich war in dem Moment wirklich persönlich angefressen, weil ich dachte, ohne den Job geht der Film für mich nicht weiter. Das war plötzlich ganz existentiell.

UA: Da sprecht ihr jetzt von dem gleichen. Irgendwann hat es euch gehabt. Ich hatte dagegen immer das Gefühl, dass ich ein Handwerk in der Hand habe. Ich haue mich wahnsinnig gern rein, ich habe nur gerne diese dünne Emailschicht dazwischen. Das Unglück dieser Frau, der dann auch die ganze Wohnung ausgeräumt wird, dieses Alleingelassenwerden, das berührt mich. Das spiele ich wirklich gerne, aber dann bin ich froh, dass ich dann trotzdem nach Hause gehen kann.

JS: Und kannst du dann Zuhause die Tür zumachen und das alles draußen lassen?

UA: Ja, weil ich einen Partner habe. Wenn ich alleine wäre, dann wüsste ich das nicht.

JS: Während der Arbeit habe ich festgestellt, dass es ganz wichtig ist, die Naivität nicht zu verlieren. Ich bin mit jemanden befreundet, der ganz selbstkritisch in der Versicherungsbranche unterwegs ist, den hatte ich vorab ein paar Mal getroffen. Es war im Nachhinein gar nicht so gut, dass ich dieses Zusatzwissen hatte. Es wäre besser gewesen, wenn ich nur das gewusst hätte, was Gottfried mir beigebracht hat. Dadurch wusste ich auf einmal als Schauspieler mehr, als Jochen wissen konnte. Das habe ich zum Glück schnell gemerkt und habe mich während der weiteren Kundengespräche gar nicht weiter vorbereitet. In der Tupperwarepartyszene sollte ich zum Beispiel mit einer Frau ein Verkaufsgespräch führen. Sie wusste nicht, was in der Szene auf sie zukommt, außer dass wir ein wenig plaudern. Ich habe die Vorbereitungszeit nur dafür genutzt, einen guten Kontakt zu ihr herzustellen und hab Smalltalk gemacht. Als dann gedreht wurde, habe ich einfach das Thema gewechselt und tatsächlich einen Geschäftstermin mit ihr vereinbart.

JA: Um solche Szenen habe ich euch beide beneidet. Ich hätte auch gerne interagiert, im Sinne von dokumentarischem Spiel. Das Zusammenspiel mit meinem Sohn Nanouk hat ja prinzipiell auch eine dokumentarische Ebene. Aber als ich dann ganz normal mit ihm umgegangen bin, meinte Alexander: Das Kind muss dir relativ egal sein, du bist mit deinen Gedanken eigentlich ganz woanders. Dadurch war die Situation letztlich keine dokumentarische mehr. Ich musste ständig aufpassen, dass ich das nicht aus den Augen verliere. Mir ist bis jetzt nicht klar, wie die richtige Mischung gewesen wäre.

SCHUTZRÄUME

UA: Es gab bei mir eine Situation, beim ersten Drehtag. Da musste ich in der Kosmetikschule, als Braut, vor der versammelten Mannschaft weinen. Ich habe gemerkt, dass Alexander es den Schülerinnen nicht sagen wird, weil er als instinktbegabter Regisseur die Originalreaktionen haben wollte, doch ich habe gespürt, dass das für mich nicht geht. Ich habe ihn gebeten, sie darauf vorzubereiten. Das hat mich dann geschützt für das, was ich machen musste.

JA: Das wäre natürlich gerade spannend gewesen, oder?

UA: Aber ich wusste, ich brauche das jetzt. Ich hatte auch das Gefühl, ich würde die anderen Darsteller dann benützen. Also, ich hab etwas Schweres zu spielen, ich hab selber keine Ahnung wohin das geht und dann dieser Überraschungseffekt, das war mir einfach ein Dreher zuviel. Und ich hatte keine Lust diese Leute, deren Vertrauen wir schon hatten, zu verarschen. Ich wollte zumindest, dass die Frau, die mir den Spiegel hinhält, weiß, was jetzt gerade Sache ist.

JA: Ich habe so ein Gefühl in meinen Masturbierszenen erlebt. Das war auch so, dass ich dachte, wie spiele ich das jetzt, das ist ein ganz anderer Spielstil als beispielsweise bei einem Tatort. Wir behaupten da eine Schlüssellochsituation, bei der man jemanden in einem wirklich privaten Moment zuschauen kann. Bei der es, das sag ich jetzt mal, authentisch sein soll. Das war für mich auch so eine Klippe. Ich habe den Mut, da drüber zu gehen, aber ich habe keine Erfahrung mit so einer Szene. Ich brauche den Schutzraum, in dem ich das mal ausprobieren kann. Dann lasse ich mich auch reinfallen in so eine Situation.

UA: Jeder hat da seine eigene Schmerzgrenze und die wechselt ja auch von Film zu Film. Wenn mich zum Beispiel eine Kostümbildnerin fragt, ob ich meinen Ring anlassen könnte, habe ich meistens keinen Bock darauf. Bei Alexander hatte ich keine Probleme, da habe ich auch zum Teil meine eigenen Klamotten an. Aber auch da gab es Sachen, die mir zu persönlich waren.

JA: Es gab bei mir so eine Situation, als er meine Handtasche haben wollte. Die hatte ich gerade zum Geburtstag bekommen. Ich habe viele Sachen gegeben für den Film,  klar, die ich übrigens alle nicht mehr anziehe. Das wusste ich vorher schon. Deshalb wollte ich natürlich nicht, dass das mit meiner neuen Handtasche passiert. Aber das ist genau die spannende Grenze zwischen der eigenen Person und der Figur. Was hat man plötzlich für Bedürfnisse, die eigene Person zu schützen.

UA: Ich finde es interessant, dass du über Schutz sprichst. Wir reden die ganze Zeit von der Trennung zwischen sich selbst und der Figur. Aber eigentlich sind diese Unterschiede auch hilfreich, um überhaupt die Rolle markant abzugrenzen und zu gestalten.

JS: Ich würde das nicht als Begrenzung beschreiben, sondern als Reibungsfläche. In meinen Szenen reagiere ich aus dem Gefühl der Unzufriedenheit und der Unsicherheit heraus. Der Unzufriedenheit, das Leben verändern zu wollen und der Unsicherheit nicht zu wissen wohin die Reise geht. Das war mein Motor. Die Frage die sich mir jetzt stellt ist: Wieweit kann ich gehen? Wie viel Schutz vor meiner Figur brauche ich?

UA: Das interessiert mich auch. Ich will das Wort Figur hier nicht überstrapazieren. Es ist ja nur ein Platzhalter. Aber in der Kosmetikschule ging es mir auch um die anderen. Vor denen hatte ich großen Respekt.

JS: Ich verstehe das schon, einerseits hast du Respekt, aber andererseits beraubst du sie auch ihrer authentischen Reaktion. Das ist zweischneidig.

JA: Aber man kann allen Beteiligten auch sagen: Passt mal auf, was immer Ulrike jetzt macht, es gehört dazu.

UA: So was hat Alexander auch gesagt. Es war ja kein: Jetzt müsst ihr bitte alle betroffen gucken. Das hätte ja nie funktioniert. Auf jeden Fall kam gleich nach dieser Szene die Aussage von einer Mitspielerin, dass sie unterbrochen hätte, wenn sie nicht informiert gewesen wäre.

JS: Obwohl so eine Unterbrechung sicher auch spannend sein kann. Im Männerwohnheim tauchte im Treppenhaus während der Dreharbeiten plötzlich ein Bewohner auf, der wegen unerlaubten Hundebesitzes rausfliegen sollte. Er begann sich bei dem Vermieter lautstark über die dortigen Zustände zu beschweren Das war natürlich eine großartige Unterbrechung, die Alexander und Martin gleich eingefangen haben.

UA: Vielleicht bin ich da nicht mutig genug. Diese Verwischung der Grenzen bin ich nicht gewohnt. Im Theater gibt es eine ganz klare Abmachung: Wir spielen Theater und ihr seid das Publikum. Ich komme nicht aus dem Performancebereich, wo das manchmal verwischt.

JA: Das ist etwas, was Jochen gut kann. So bist du, dass du ohne Rücksicht auf Verluste einfach ins kalte Wasser springst, auch über die eigenen Grenzen hinweg. Das ist manchmal positiv aber manchmal auch nicht. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, als du in dem Männerwohnheim warst, immer mit Besoffenen zusammen und wo du keine Reaktion mehr berechnen konntest.

JS: Da gab es eine Szene, die ist leider nicht mehr drin, in der es darum ging, dass ich es nicht mehr aushalte in dieser Pension und mich lösen will. Es war die letzte Szene, die wir an dem Tag drehen wollten. Mein Zimmernachbar Jens war bei mir und er hatte an dem Tag schon viel getrunken. Ich dachte mir, ich muss jetzt auf den gleichen Level kommen und ich begann während der Szene zu trinken. Dann habe ich angefangen, Jens zu provozieren und richtig zu beleidigen. Einfach weil ich aus diesen Zuständen raus wollte.

JA: Da bist du schon über eine Grenze gegangen. Und Alexander hat die Szene dann auch nicht reingenommen, weil er Jens schützen wollte. Das zeichnet den Film eben auch aus, dass er darauf verzichtet. Natürlich ist so ein Crossover auch sehr spannend. Ich glaube an die Arbeit mit dem Zufall, weil er dir immer wieder kleine Juwelen zuträgt, die du in einer stringenten Planung gar nicht bekommst. Weil der Zufall die Dinge anders befördert. Das ist doch einer der spannenden Punkte an unserer Arbeit, dass man nicht nur etwas erfüllt, sondern dass man auch sich selber überraschen kann, oder von fremden Ideen überrascht wird.

RAUM UND ZEIT

UA: Mir gefiel der Umgang mit den Räumen. Wie wir uns die Räume erobert haben und durch sie inspiriert wurden. Meistens kommt man an das Set und es herrscht sehr viel Hektik und man kann gar nicht schauen, was das eigentlich für ein Raum ist. Oft hat man sich den Raum anders vorgestellt und muss gegen diesen ersten Eindruck ankämpfen. Bei uns war es so, dass wir die Zeit  hatten und ich konnte mich, ob draußen oder drinnen, erstmal darauf einlassen.

JA: Ja, es war toll, wie großzügig mit dem Material umgegangen wurde. Die Filmrollen sind einfach durchgelaufen, das hat man doch sonst nicht. Auch die langen Einstellungen im Einkaufszentrum, wo ich nur rumlaufe. Das ist schon was Besonderes, dass man draufhält und guckt was passiert.

UA: Daran musste ich mich erstmal gewöhnen, weil ich am Anfang dachte, es muss jetzt alles ganz schnell gehen. Dass ich viel Zeit habe und dass ein Regisseur da ist, der auch viel Zeit hat, war mir ganz neu.

JS: Sich trauen zu dürfen langweilig zu sein. Das fand ich bemerkenswert. Ich empfinde mich oft als überaktiven Schauspieler. Daher war es gut, einmal nichts zu machen und zu vertrauen, dass das auch trägt.

UA: Ich durfte, auch wenn wir was anderes abgemacht hatten, beim ersten Take spontan Dinge verändern. Das ging immer. Wir haben das dann wieder gelassen, wenn es nicht gut war. Aber wenn es gut war, haben wir es integriert. Das war eine große Freiheit.

Das Gespräch zwischen Judith Al Bakri, Ulrike Arnold und Jochen Strodthoff fand am 28.08.2010 in München statt. Transkription und Bearbeitung: Jochen Strodthoff.