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Unrueh (2022)

Der Fußgänger: Rimini im Winter ist grau und kalt. Die meisten Hotels sind geschlossen, Tourist:innen gibt es kaum. Und liefert doch einmal ein Reisebuch eine Gruppe Rentner:innen ab, so betritt der österreichische Schlagersänger Richie Bravo die Bühne und singt seine Liebeslieder. Seine Karriere mag zwei vorbei sein, doch als Profi unterhält er routiniert seine Zuhörer:innen. Richie Bravo der Schlagersänger, das ist die eine Seite dieses Films. Interessanter ist jedoch Richie Bravo der Fußgänger. Zügig läuft er den Strandpromenaden entlang, mal zu seinem Haus, dann in ein Hotel oder eine Bar. Denn im Kino gilt: Wer zu Fuss geht, ist mittellos, mit dem gehts bergab. Was von Rimini (Ulrich Seidl) bleibt ist nicht so sehr die Geschichte dieses tapferen Schlagersängers, sondern diese Momente des Gehens, die die einzelnen Szenen immer wieder verbinden und die einen Ort des Stillstands markieren, eng, grau, in dem man sich zwar bewegen kann, jedoch nie weit kommt.

Das Ticken der Uhren: Die Schweiz in den 1870er Jahren, die industrielle Uhrenproduktion schreitet in einem Tal im Jura zügig voran. Anarchistische Kooperativen und Gewerkschaften halten dagegen. Noch zeichnet sich der Fortgang der Geschichte nicht ab. Unrueh (Cyril Schäublin) war einer der schönsten Filme der Berlinale. Bestimmt eine Uhrzeit den Fortgang der Geschichte? Die Zeitmessung in Unrueh ist eine Sache des Standpunktes. Insgesamt gibt es vier unterschiedliche Uhrzeiten in diesem Tal (und natürlich: die Uhrenfabrik sich rühmt die genaueste Zeit zu haben). Wehe dem, der sich plötzlich nach einer anderen Zeitzone richtet und dadurch womöglich zu spät in der Uhrenfabrik erscheint. Männer in weißen Kitteln, die wie Außerirdische die Arbeiter:innen kapitalistischen Experimenten unterwerfen, überwachen dort die Montage der Uhren. Alles wird penibel gemessen: Wie lange es dauert die Unruhe, also die Spirale, die die Uhr in Schwingung versetzt, einzusetzen. 30, 40 oder 50 Sekunden? Wie lange sind die Wege von einer Halle zur nächsten? Wo können einige Sekunden eingespart werden? Die Zeit hat stets das letzte Wort. Dagegen sind selbst die Fabrikdirektoren machtlos: Als sie sich zwecks einer neuen Werbebroschüre auf dem Gelände fotografieren lassen, darf niemand mehr diesen Vorplatz überqueren. Der Einwand einer Arbeiterin jedoch, durch den dabei Umweg verliere sie vier Minuten Arbeitszeit, erledigt jede weitere Diskussion. Die Bildaufnahme muss warten. Unrueh ist nicht zuletzt ein Film, dem man gerne zuhört: Russisch, Französisch und diverse Schweizer Dialekte fliessen ineinander über, überlappen sich. Dazu das konstante Ticken der Uhren, das Gemurmel in den Fabrikhallen und die leisen Arbeitsgeräusche, fast möchte man die Augen schließen, um diesen besonderen Klängen zuzuhören.

Neue Gesten: Welche Spuren hinterlässt die Pandemie in Filmen, die in der Gegenwart angesiedelt sind? Werden Masken getragen? Oder schiebt man die zu erzählende Geschichte auf 2019, wie es einige Autor:innen bereits getan haben? Letztes Jahr hätte ich instinktiv vermutet, dass man die offensichtlichsten Merkmale möglichst ignoriert. Zu den schönsten Filmen der Berlinale gehörten jedoch gerade Filme, die genau das Gegenteil getan haben. Father’s Day (Kivu Ruhorahoza), The Novelist’s Film (Hong Sangsoo), Avec amour et archarnement (Claire Denis) oder Small, Slow but Steady (Shô Miyake). Der Erfolg dieser Film hat natürlich nichts mit der Pandemie zu tun, die Tatsache, dass die Schauspieler:innen Masken tragen, macht die Filme nicht automatisch besser (oder schlechter). Es sind ganz entschieden keine Erzählungen über die Pandemie. Vielmehr geben sie anhand kleiner Momente den Alltag der vergangenen Monate wieder. Figuren erwähnen finanzielle Einbußen, man spricht über den Wunsch zu Tanzen und der Umgang mit Masken findet wie selbstverständlich Eingang und erschafft neue, kleine Gesten. Diese Filme erkennen die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre an, ohne jedoch die Pandemie in den Mittelpunkt zu rücken. In dieser Bescheidenheit liegt ihre Schönheit. 

In Small, Slow but Steady ist die Hauptdarstellerin taub, das Tragen von Masken macht die Kommunikation für sie besonders schwer. Tagsüber arbeitet sie in einem Hotel, abends geht sie zum Boxtraining. Nachdem sie ihre zwei ersten Kämpfe gewonnen hat, gerät sie kurz vor ihrem dritten Kampf in eine Krise. Dieser bleibt jedoch diffus. Einsamkeit? Angst? Viel stärker ist der Film den Bewegungen der Darstellerin Yukino Kishii interessant, wie sie ihren Körper zur Bewegung zwingt, und den Orten, in denen sie trainiert: das Flussufer, verlassene Straßenzüge und das alte Trainingsgebäude.

Rotwein: Die Filmemacherin Mitra Farahani bringt in À vendredi, Robinson Jean-Luc Godard und den iranischen Autor, Regisseur und Produzenten Ebrahim Golestan miteinander ins Gespräch. Beide haben sich nie persönlich getroffen. Jeden Freitag schicken sie sich Nachrichten zu. Dazwischen sehen wir die beiden Männer wie in ihren Wohnungen, in der Küche, beim Wäsche aufhängen, aber auch in Krankenhäusern. Am Ende: Godard wendet sich zum ersten Mal direkt an Golestan. In einem Briefe habe dieser ihn gefragt, ob er denn noch an das Kino glaube, so Godard. Und da sehe ich nun Godard, wie er in seiner verdunkelten Wohnung in Rolle zurückhaltend, fast schon entschuldigend, auf diese Frage antwortet, dass sie ihn doch etwas an ein Polizeiverhör erinnere. Dazu gießt er sich Rotwein ein und verdünnt ihn mit Wasser. Er blickt dabei direkt in die Kamera und dieser Moment ist überwältigend.