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REVOLVER Buenos Aires
Deutsch-argentinische Film-Wahlverwandschaften


Mein Stern

Die Filmreihe REVOLVER Buenos Aires – Deutsch-argentinische Film-Wahlverwandschaften präsentiert eine Auswahl von Filmen, die untereinander einen scharfsinnigen und gleichzeitig spielerischen Dialog aufnehmen, sich zum Teil widersprechen, zum Teil fortsetzen. Das Programm besteht aus Filmen, die mehrheitlich ab den 90er Jahren produziert wurden, einer Zeit wichtiger Veränderungen in beiden Ländern. In Argentinien entstand ein neues Kino inspiriert von den wiedergewonnenen Freiheiten nach der Rückkehr der Demokratie aber auch durch eine junge Generation von Filmemachern, die in neugegründeten Filmhochschulen einen radikalen Wechsel in der Auffassung und Produktionsform ihrer Filme anstrebten. In Deutschland wurde der Tod Rainer Werner Fassbinders gemeinhin mit dem Ende des Neuen Deutschen Films gleichgesetzt. Das Privatfernsehen setzte sich durch und Autorenfilmer hatten immer größere Schwierigkeiten, ihre Filme zu finanzieren. Es waren neue Utopien gefragt, in Argentinien die eines neuen und freieren Kinos; in Deutschland eine Alternative zu einem Kino der (Fernseh-)Großproduktionen. Wie entwickelten sich in der Folge die beiden Kinematographien? Welche ästhetischen, politischen und sozialen Kräfte wurden daraus gezogen?

Am 11. Juni beginnt die Filmreihe, Franz Müller wird die Double Features in Buenos Aires vorstellen. Alle Termine und die spanischen Texte gibt es hier. Das Programm umfasst die folgenden Filme:

Fango (2012) José Celestino Campusano & Jesus Christus Erlöser (2008) Peter Geyer

La vida por Perón (2005) Sergio Bellotti & Sie haben Knut (2003) Stefan Krohmer

Fantasma (2006) Lisandro Alonso & Winter Adé (1987/88) Helke Misselwitz

Balnearios (2002) Mariano Llinás & Leben BRD (1990) Harun Farocki 

Bolivia (2001) Adrián Caetano & Der Wald vor lauter Bäumen (2003) Maren Ade

La niña santa (2004) Lucrecia Martel & Totem (2011) Jessica Krummacher 

Tan de repente (2002) Diego Lerman & Mein Stern (2001) Valeska Grisebach

Tierra de los padres (2011) Nicolás Prividera & The Halfmoon Files (2007) Philip Scheffner

Rapado (1992) Martín Rejtman & Alle Zeit der Welt (1998) Matl Findel

Viola (2012) Matías Piñeiro & Die Freunde der Freunde (2002) Dominik Graf

Viola

Fango + Jesus Christus Erlöser
Gesucht wird Jesus Christus. So beginnt der Monolog, den Klaus Kinski 1971 in einer zähen Schlammschlacht einem besserwisserischen Spaß-Event-Publikum entgegenschleudert und den er am Ende nach mehreren gescheiterten Versuchen einer kleinen Jüngerschar ganz ohne Mikrofon und ohne Bühne zärtlich erschöpft ans Herz legt. In Fango ist es umgekehrt. Das anarchische Musikerleben und die damit einhergehende freie Liebe, die der „Wizard“ sich in seinem Viertel über Jahrzehnte aufgebaut hat, löst eine verhängnisvolle Kettenreaktion unter den Einfältigen aus. Die Utopie mündet in einen tödlichen Gewaltexzess, und am Ende ist klar: Jesus Christus existiert nicht. Da kann man suchen, so lange man will. Es ist nicht nur die wilde, weiße Mähne der beiden Jesus-ähnlichen Protagonisten, die die beiden Filme seltsam zusammenrückt. Hier kämpfen zwei Rock’nRoller einen letzten aussichtslosen Kampf für die Freiheit des Herzens, des Geistes und der Liebe gegen alles, was sich dem entgegenstellt. Ein Kampf der Träumer gegen die Dumpfheit der Mehrheit. Die Botschaft der Liebe, die in Hass umschlägt. Aber in beiden Geschichten erleben wir auch die Überheblichkeit der Jesusfigur, das Zu-viel-verlangen von den anderen: zu viel Mut, zu viel Intelligenz, zu viel Liebe. Obwohl von allem zu wenig da ist. In keinem Film wird die historische Figur Jesus Christus so lebendig wie in dem brilliant geschnittenen Material von Kinskis schillernder Performance. Während Kinski in einer Art Jesus Metal seine Widersacher auf die Bühne ruft, um ihnen dann das Mikro zu entreißen und sie – völlig zu Recht – anzuschreien, dass sie nichts zu sagen hätten, muss der „Wizard“ eher passiv mit ansehen, wie sein schönes Paradies der freien Liebe vor seinen Augen zu Schutt und Asche massakriert wird. Er, der eigentlich nichts anderes vorhatte, als zusammen mit anderen Musikern noch mal musikalisches Neuland zu betreten und den Tango mit dem Rock’nRoll zu verschmelzen, muss am Ende all das aufgeben, woran er geglaubt hat und selbst zur Gewalt greifen. Auch Fango könnte ein Bühnenstück sein, und das Nicht-auf-realistische-Inszenierung-wert legen, ist vielleicht der größte Trumpf des Films und gibt ihm eine seltsame Universalität. Ein Mysterium.
Franz Müller

La vida por Perón + Sie haben Knut

Zwei Kammerspiele: Das eine auf einer Skihütte in den Bergen, eine Art Auszeit eines sich in Gesprächen verzettelnden Kollektivs, das andere mitten in Buenos Aires in einem Wohnhaus unter dem Zeitdruck eines politischen Coups, perfekt geplant von einer hierarchisch organisierten Untergrundbewegung. In beiden Filmen geht es um die Emanzipation des Einzelnen von der Gruppe, die in beiden Fällen eine politische Widerstandsgruppe ist. Deren „ernstes“ Anliegen wird in beiden Filmen ad absurdum geführt. Und womit könnte man das besser machen, als mit der Distanz, die Humor ermöglicht? Während der Humor bei Krohmer leise und ironisch, zuweilen misanthrop ist, erzählt Bellotti ganz humanistisch am Rande des Makabren, aber immer so, dass die Erzählung nicht in die Farce kippt. Und dass das nicht geschieht, ist schon ein Wunder. Denn die Behauptung ist enorm: Ein junger Widerstandskämpfer wird mit der Tatsache konfrontiert, dass seine Anführer den Leichnam seines gerade verstorbenen Vaters gegen den Leichnam von General Perón austauschen wollen, um diesen zu entführen. Wer bitte, soll das eigentlich glauben? Behauptungen im Kino sind etwas Schönes. Das Missing Link. Der Leichnam von Perón, den wir natürlich nie zu sehen bekommen. In Krohmers Film ist das der titelgebende Knut. Sie haben Knut! Der Pathos dieser Dringlichkeitsmeldung von Wolfgang, gespielt vom Drehbuchautor Daniel Nocke, ist schon zum Lachen. Weil er versucht, Macht und Kontrolle durch Ernsthaftigkeit zu demonstrieren. Und die Schiefheit der Sprache der Macht ist immer komisch, wenn man aus dem Spiel der Macht hinaustritt und sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. In Krohmers Film ist das der Blickwinkel von heute auf ein Lebensgefühl der 80er Jahre. Auch in Bellottis Film hilft das historische Setting. Mit Realismus haben beide Filme nichts am Hut. Umso wahrhaftiger sind sie dadurch.
Franz Müller

Fantasma + Winter Adé
Auf den ersten Blick scheint es, dass Fantasma und Winter Adé keinerlei Gemeinsamkeit aufweisen, als seien sie Planeten, die sich in vollkommen unterschiedlichen und weit entfernten Galaxien bewegen. Lisandro Alonsos Film ist in Farbe, der von Helke Misselwitz in einem rigorosen Schwarz-Weiß gedreht. Der eine besteht fast ausschließlich aus Geräuschen und Stille, während der andere den Worten nicht nur vertraut, sondern sie geradezu darbietet in einem so entscheidenden Augenblick, in dem es in der ehemaligen DDR kurz vor dem Mauerfall dringend notwendig erschien, einer Fülle von mundtot gemachten Ideen und Gefühlen eine Stimme zu verleihen. Ein Film erzählt von einsamen und abgesonderten Männern, der andere von Frauen als Gemeinschaft, die sich anscheinend enorm viel zu sagen haben, obwohl sie sich gar nicht kennen. Schließlich handelt es sich bei Alonsos Film um einen statischen Film mit Standbildaufnahmen, der an einem einzigen, geschlossenen, ja sogar erdrückenden Ort gedreht wurde. Bei Misselwitz ist alles in Bewegung, alles bewegt sich ständig auf Schienen in einem Gebiet, das sich der Welt zu öffnen scheint. Und trotz aller Unterschiede und Kontraste scheint in Fantasma und Winter Adé ein gemeinsames Echo nachzuhallen, so etwas wie eine Ahnung von einem Ende der Zeiten. In dem deutschen Film ist dies viel klarer und transparenter: in der gleichen Stadt, in der ein Jahr später der Funke zündete, der letztendlich der Teilung in zwei deutsche Länder ein Ende setzte, wurde Winter Adé 1988 (nicht ohne Kontroversen) auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival uraufgeführt und sagte im Grunde die Auflösung eines Landes und eines Systems vorher. In Alonsos Film ist dies alles verdeckt, mysteriös, aber man spürt ebenfalls die Idee eines Endes, in diesem Fall das Ende einer Auffassung von Kultur, die in der Institution des Theaters San Martin verkörpert und von Anfang an mit einem symbolischen Wert belegt wurde, der langsam verloren ging. In gewisser Weise sind die desolaten Bilder von Fantasma – das fast leere Programmkino Sala Lugones, die schrecklichen Flure, das Personal, das wie Zombies wirkt – ein Alptraum, der immer wieder Wirklichkeit wird.
Luciano Monteagudo

Balnearios + Leben BRD
Eine Komödie von Harun Farocki? Ist das möglich? Vielleicht war das nicht die Absicht des Regisseurs von Nicht löschbares Feuer. Sein ironischer Blick auf das Alltagsleben der Deutschen und der allen dargestellten Situationen inhärente, absurde Humor lassen keinen anderen Schluss zu, als dass es sich bei Leben BRD um eine Komödie handelt. Obwohl Farocki in Argentinien sehr bekannt ist, wurde der Film hier unverständlicherweise noch nie gezeigt. Obwohl Mariano Llinás in seinem ersten Langfilm Balnerios mit ganz anderen Themen und Realitäten arbeitet, taucht der Zusammenhang zwischen beiden Filmen ganz spontan auf. Beide Filme halten sich weder an die Konventionen des Dokumentarfilms noch an die Ansprüche des Filmessays. Sie offenbaren sich als Fremdkörper, Einzelfälle, jenseits aller Normen. Beide werfen einen zwischen Distanz und Überheblichkeit angesiedelten Blick auf ihr Studienobjekt; ihre Fähigkeit zur Ironie, ihre sarkastische Kraft, ihr paradoxer, manchmal sogar übermütiger Humor spricht sie jedoch wieder frei von dieser hochmütigen Haltung. Der Humor in beiden Filmen funktioniert mit der Anhäufung von Beispielen, die eine Art von Paradox herausbilden: in Balnearios sind es die Rituale am sommerlichen Strand (wo die Touristen lange und vergebliche Spaziergänge machen) oder die Figuren, die die komplette Strandortfauna repräsentieren; bei Farocki die Unterweisungen für alle und jede einzelne Tätigkeit des Alltagslebens. Das Ergebnis sind zwei übereinstimmende Blicke auf die häufigsten und banalsten Zeremonien in zwei vollkommen unterschiedlichen Gesellschaften, in denen die Gleichförmigkeit und Homogenität der Handlungen des gesellschaftlichen Lebens systematisch reguliert werden.
Luciano Monteagudo

Bolivia + Der Wald vor lauter Bäumen
Bolivia und Der Wald vor lauter Bäumen sind „Immigration Cinema“, wenn man so will. Aber anders als die vielen Exploitation Filme zum Thema Immigration, mit denen Europa und Nordamerika seit einigen Jahren überschwemmt werden und die inzwischen fast ein eigenes Genre bilden – das die Immigranten beim besten Willen nicht verdient haben – sind diese beiden Filme ganz gerade Erzählungen über die fürchterlichen ökonomischen Zusammenhänge und Kreisläufe unserer Welt – Früchte des Zorns, Früchte der Einsamkeit. In Caetanos Film geht es um die tatsächliche wirtschaftliche Ökonomie des nackten Überlebens, in Ades Film macht der Zuschauer Bekanntschaft mit sozialen und emotionalen Ökonomien und den daraus resultierenden Zwangsmustern. Je mehr Melanie Pröschle (Eva Löbau) von ihren Mitmenschen will, desto mehr ziehen diese sich zurück. Es ist furchtbar dabei zuzusehen. Ein Horrorfilm. Das gilt auch für das Miterleben von Freddy Flores’ Versuchen, in seiner neuen Heimat Fuß zu fassen. Es sind die Kreisläufe, die das ganze Ausmaß des Horrors vor Augen führen: Man leidet mit, wie sich die vermeintlich neu gewonnene Freundin in Der Wald vor lauter Bäumen von der Hauptfigur zurückzieht, muss aber später mit ansehen, wie Melanie genau die gleiche perfide Praxis anwendet, als ein Arbeitskollege Kontakt zu ihr aufnehmen will. Ähnlich ergeht es einem mit Freddy, der in der Bar, in der er arbeitet, gezwungen wird, schlafende Gäste zu wecken und auf die Straße zu schicken, wenn sie nichts konsumieren wollen. Er selbst gibt eines Abends einen Teil seines lächerlichen Salärs nach Feierabend in einer anderen Bar aus. Und schläft ein. In der Welt dieser Einzelkämpfer müssen Menschen immer aufpassen, immer darauf achten, wie komme ich rüber, wie schätzen die anderen mich ein, was darf ich auf keinen Fall tun, wie kann ich punkten, und genau das macht beide Filme so modern und zeitlos. Es sind ja oft die Erstlingsfilme, die diese Klarheit haben, den unverstellten Blick, den Zorn, das Aushalten, das Mitgefühl. Da ist kein Anbiedern beim Publikum. Da ist kein Entkommen. Allein das Ende von Ades Film ist in seiner Überhöhung ein Lichtblick so, wie die anfängliche Fußballsequenz in Caetanos Film dem Zuschauer den Hauch Distanz einräumt, den er braucht, um den Film auszuhalten.
Franz Müller

La niña santa + Totem
Von den Abgründen der kleinbürgerlichen Existenz erzählt Jessica Krummacher in ihrem Spielfilmdebüt Totem. Durch die Augen eines jungen Hausmädchens blicken wir tief in das Leben einer Familie, in der jegliche Form von Kommunikation zusammengebrochen scheint. Was auf den ersten Blick wie ein weiteres Stück sozialrealistisches Kino erscheint, wandelt sich schnell in ein beunruhigendes Kammerspiel, das durch einen dezentem Humor und ein feines Gespür für absurde Momente besticht. Die dichten grünen Hecken und Wälder, die die Vorortshäuser umschließen, erzeugen eine geradezu klaustrophobische Enge, aus der es kein Entrinnen gibt.
Eine nicht minder kammerspielartige und enigmatische Atmosphäre durchdringt ebenfalls Lucrecia Martels zweiten Film La niña santa. Wie der anonyme Vorort in Totem fungiert auch hier der Schauplatz als eine Art geschlossene Gesellschaft, dessen Ruhe von zwei Querschlägern empfindlich gestört: Dort die junge Haushaltshilfe, hier eine Gruppe Ärzte. Zwar tun sich auch bei La niña santa allerlei Abgründe auf, doch klaffen diese nicht so weit auf wie in Krummachers Film. Das Hotel verwandelt sich vielmehr für die junge Protagonistin in eine Art Wunderland, als ein Ärzte-Kongress dort stattfindet und ihr religiös geprägtes Leben auf die kühle Rationalität der Wissenschaft trifft.
Hannes Brühwiler

Tan de repente + Mein Stern
Zwei Lektionen in aufregendem Erzählen: In Diego Lermans Spielfilmdebüt Tan de repente wird eine junge Verkäuferin aus ihrem vertraut langweiligen Leben in Buenos Aires herausgerissen. Sie lässt sich von zwei Frauen entführen und gemeinsam brechen sie zum Meer auf. In Mein Stern erzählt Valeska Grisebach von der Liebe zweier Teenager in Berlin. Es sind zwei Schlüsselfilme der jüngeren argentinischen, respektive deutschen Filmgeschichte, die sich formal sehr unterscheiden. Das melancholische Schwarzweiß in Tan de repente erinnert an das US-amerikanische Independent-Kino oder an die Schule der Straßenfotografie. Die große Leichtigkeit, mit der Lerman seine Erzählung ausstattet, weicht in Grisebachs Debütfilm einer Form, die konzentrierter und reduzierter ist und zuweilen an das Kino von Eric Rohmer denken lässt. Die Liebe der beiden Jugendlichen und deren Vorstellungen, wie eine solche auszusehen hat, bündeln sich in Momenten, die zuweilen die Grenzen der Leinwand sprengen und den Zuschauer bis ins Mark treffen. Lerman bezeichnete seinen Film zurecht als eine Abenteuergeschichte. Auch Mein Stern könnte man so umschreiben. In diesen beiden außergewöhnlichen Filmen begeben sich die Menschen in ein Abenteuer und ergründen dabei die vorgeschriebenen Rollen, die ihnen durch die Gesellschaft vermittelt werden.
Hannes Brühwiler

Tierra de los Padres +The Halfmoon Files
Der argentinische Film spielt fast vollständig auf einem Friedhof, der deutsche Filme beschäftigt sich mit einem wertvollen und vergessenen Archiv. In beiden herrscht Ruhe, innere Sammlung und vor allem Stille. Aber sowohl Tierra de los Padres als auch The Halfmoon Files teilen eine seltene Tugend: sie lassen Tote sprechen, beschwören die Geister der Vergangenheit herauf und stellen Fragen an die Gegenwart.Der Film von Nicolás Prividera zeigt die argentinische Geschichte als ein ständiges Schlachtfeld, auf dem die Toten keine Ruhe finden und noch aus den Gräbern sprechen; ihre Ideen verflechten sich, als seien sie Schwerter. Philip Scheffners Film bezieht sich auch auf einen Kriegsschauplatz, in diesem Fall auf den Ersten Weltkrieg, in dem es, wie in jedem Kampf, Sieger und Verlierer gibt. Mit einer Ausnahme: der unsichtbare Protagonist seines Films ist ein Kriegsgefangener, ein aus Indien stammender Soldat, der in Deutschland, weit entfernt von seiner Heimat, in ein Lager gesperrt ist. Über eine prekäre Tonaufnahme spricht er noch heute. Und seine Stimme – kolonisiert wie sein Land und sein Körper, als Material für ein anthropologisches Experiment genutzt – erreicht und erschüttert uns in der Gegenwart mit den Fragen, die sie aufwirft.Es ist ungewöhnlich zwei Filme zu finden, die so politisch und gleichzeitig so aktuell mit historischem Material umgehen. Das ist der seltsame Fall von Tierra de los Padres und The Halfmoon Files.
Luciano Monteagudo
 
Rapado + Alle Zeit der Welt
Die Paarung der Filme von Rejtman und Findel ist wahrscheinlich die widerspenstigste in diesem Programm. Alle Zeit der Welt und Rapado erzählen von Müßiggängern, von Slackern. Menschen auf der Suche in Berlin und Buenos Aires in einer seltsam mysteriös verfremdeten Welt. Während die Menschen in Rapado sich verlieren, ist Findels Blick optimistischer und eher der eines Oblomov, der sich die Welt ansieht und die Komödie darin zu erkennen glaubt: Wenn man nur lange genug wartet, wird sich schon alles fügen. Im Grunde sind sich die Filme so fremd wie Antonioni und Fellini, und man hätte Rapado stimmiger mit einem frühen Film der Berliner Schule kombinieren können. Das Glück meiner Schwester von Angela Schanelec beispielsweise oder Dealer von Thomas Arslan. Wir haben uns für Alle Zeit der Welt entschieden, weil er keine Schule gemacht hat. Es ist eine interessante Überlegung, was passiert wäre, wenn Findels Film wie der von Rejtman Nachahmer gefunden hätte, eine filmische Bewegung mit begründet hätte. Dass das nicht geschehen ist, hat damit zu tun, dass Kino in Deutschland aufgrund der Finanzierungsstruktur eine Staatskunst ist. Eine Komödie wie die von Findel, die sich aus einem Überfluss von Ideen speist, war aber noch nie staatstragend, weil sie Alternativen bietet zur herrschenden Weltsicht. Und so bleibt der Film ein Solitär, so wie es Rejtmans Film für kurze Zeit war, bevor sich aus dem „weniger ist mehr“ eine argentinische Nouvelle Vague entwickelt hat (ähnlich wie sie in Deutschland mit der Berliner Schule ein paar Jahre später entstanden ist). Diese Paarung ist sicher auch eine Battle der Haltungen. Bei allen Gemeinsamkeiten wie der Ruhe und Lässigkeit der Erzählung, der charmant altmodischen filmischen Sprache, der anrührenden Lächerlichkeit der Hauptfiguren, es bleibt ein Missklang. Und trotzdem könnte die Hauptdarstellerin aus Findels Film jederzeit dem Hauptdarsteller aus Rejtmans Film mit auf den Weg geben: Jesus! Du hast aber auch wirklich gar nichts kapiert!
Franz Müller

Viola + Die Freunde der Freunde
Dominik Graf adaptiert eine Erzählung von Henry James, Matiás Piñeiro interpretiert Szenen aus dem Werk von Shakespeare. So unterschiedlich Die Freunde der Freunde und Viola auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mögen, im Kern verbindet die beiden Literaturverfilmungen eine große Freude und Leichtigkeit, mit der sie die ursprünglichen Texte interpretieren und in die Gegenwart übersetzen. Eine Leichtigkeit, die sich nicht zuletzt auch in der Form niederschlägt: das Geisterhafte der Erzählung wird von Dominik Graf in eine brüchige digitale Ästhetik übersetzt und man merkt dem Film die Freude des Regisseurs an, mit den neuen digitalen Videokameras zu arbeiten. Viola dagegen erzählt zwar keine Geistergeschichte, doch die diversen Wiederholungen und Variationen, die Piñeiro in die Erzählung einflechtet, rücken den Film in eine nicht minder traumartige Atmosphäre. Damit erschließt sich uns eine weitere Gemeinsamkeit: Beide Filmemacher verorten ihre Filme nicht primär in der Realität, sondern schaffen zwei außergewöhnliche Werke, die fest im Land der Fiktion angesiedelt ist.
Hannes Brühwiler